Nach Swanetien reisen

Swanetien ist bekannt für seine weitgehend unberührte Gebirgslandschaft und die besondere Architektur seiner Bergdörfer. Deswegen zieht es jährlich mehr als 150.000 Menschen aus aller Welt dorthin. Der Tourismus verändert die Region massiv, gleichwohl wäre ein Leben ohne Tourismus dort kaum mehr möglich. Swanetien ist in Georgien eines der begehrtesten Reiseziele. Die historische Kaukasus-Region wird als kulturell geschlossener Raum betrachtet mit eigenen Traditionen, die selbst die Zeit der Sowjetunion überdauert haben. Neben seiner besonderen Geschichte und Architektur findet man dort eine unvergleichbar artenreiche Gebirgslandschaft, die Wissenschaftler und Touristen gleichermaßen anzieht. Die meisten der dauerhaft in Swanetien lebenden Gebirgsbewohner betreiben eine Bergbauernwirtschaft, die hauptsächlich der Selbstversorgung dient.

Swanetien liegt im Nordwesten Georgiens. Man unterscheidet Ober- oder Hochswanetien (georgisch Zemo Swaneti) und Unter- oder Niederswanetien (Kvemo Swaneti) in den Verwaltungsregionen Mingrelien-Oberswanetien und Ratscha-Letschchumi-Niederswanetien. In Oberswanetien leben entlang des Haupttals des Enguri heute etwa 14.600 Menschen, in Niederswanetien gut 9.000. Niederswanetien liegt zwischen Swanetischem Gebirge und Letschchumi-Gebirge im Tal des Flusses Tshkenistskali. Die bedeutendste Stadt in Swanetien ist Mestia, das Verwaltungszentrum Oberswanetiens.

Oberswanetien wird oft fälschlicherweise gleichgesetzt mit der historischen Region Swanetien, die bereits im Hochmittelalter in Ober- und Unterswanetien untergliedert wurde. Verwechselt wird es häufig auch mit dem sogenannten Freien Swanetien. Dies ist eine Bezeichnung für einen Teil Oberswanetiens, die seit der Besetzung durch das zaristische Russland verwendet wurde.

Die Gliederung des swanetischen Gebirgslandes reicht von verschiedenen Waldstufen (Fichten-, Tannen-, Buchen-, Birken-, Hainbuchen- und orientalische Hainbuchenwälder) über alpine Matten bis in eine Fels- und Gletscherzone. Das Relief entlang der beiden Hauptflüsse Enguri und Tshkenistskali  zeichnet sich durch große Schroffheit aus, mit tief eingeschnittenen, teilweise schwer zugänglichen Seitentälern und hoch gelegenen Gebirgspässen. Swanetien verfügt über eine hohe Biodiversität und über eine Reihe von Pflanzen, die nur im Kaukasus vorkommen wie spezielle Arten von Glockenblume, Distel und Fingerkraut. Wie neuere Untersuchungen zeigen, verfügen die Gebirgsbewohner bis heute über eine hohe Kenntnis lokaler Pflanzen für die medizinische Anwendung. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den hausnahen Gemüse- und Kräutergärten zu, die eine beindruckende Vielfalt an Pflanzengesellschaften bieten. Die obere natürliche Waldgrenze liegt bei etwa 2.200 Metern. Inzwischen ist diese jedoch heute durch jahrhundertelange Weidewirtschaft und Holzeinschlag um 200 bis 300 Meter tiefer gelegen. An den sonnenzugewandten Hängen liegt sie noch tiefer, da dort die Wälder schon vor langer Zeit gefällt worden waren, um die in Siedlungsnähe gelegenen Hänge ackerbaulich zu nutzen.

In Oberswanetien trifft man auf die für Europa wohl historisch einmalige Situation, dass eine ganze Region, genauer gesagt die Dorfgemeinschaften zwischen Latali und Uschguli nie unter Lehnsherrschaft gestanden hatte. Die Bewohner dieser Dorfgemeinschaften konnten bis zum Vordringen des zaristischen Russlands die Zugriffsversuche der westlich und südlich liegenden Herrschaftsgebiete abwehren und sich ein eigenes Rechtssystem – ähnlich dem der schweizerischen Eidgenossenschaften – erhalten.

Beiträge auf https://stefan-applis-geographien.com/ zur Geschichte Swanetiens:
Svaneti Series | A brief history of Svaneti (Part I): Churches, monasteries, church paintings and sacral objects
Svaneti Series | A brief history of Svaneti (Part II): The divisions of Svaneti, the Free Svaneti and the isolation of Svaneti with the decline of Georgian Kingdom

Weltkulturerbe in Swanetien

Uschguli ist die Dorfgemeinschaft, der Georgien eine seiner drei Erwähnungen als UNESCO-Welterbe verdankt. Die mittelalterliche Architektur mit ihren Wehrtürmen und Turmhäusern im Dorf Tschashaschi (Uschguli) zu sehen, ist das ersehnte Ziel fastaller der mittlerweile rund 150.000 Touristen, die jedes Jahr nach Swanetien reisen. Diese besondere, mit ihren Wehrturmbauten auch für andere Regionen des Kaukasus typische archaische Architektur findet sich in allen Dörfern des früheren freien Swanetiens noch in großer Zahl. In Georgien kann man sie als Reisender leichter besichtigen als auf der russländischen Nordseite des Großen Kaukasus, wo es in Kabardino-Balkarien, Inguschetien und Tschetschenien ebenfalls Beispiele für Wehrtürme und befestigte Bergdörfer gibt.

Journalistische Beiträge zur Gefährdung des Weltkulturerbes in Swanetien
Stefan Applis (2021). World Heritage tourism and the built space of Svaneti, Georgia. Peripheral histories. January 2021
Stefan Applis (2020). Perspectives | The threats to Georgia’s world heritage sites. Should locals be expected to forgo modernity to satisfy the demands of UNESCO and the global tourism industry? Eurasianet. August 14, 2020.
Stefan Applis (2018). Perspectives | Tourism sustains, and threatens, Georgia’s highland heritage. Tales of an authentic society living at the edge of time fail to account for higher living standards in the Soviet heyday. Eurasianet. November 2, 2018

Auf verschiedenen Reiseplattformen im Internet dominieren Erzählungen einer ursprünglichen, am Rande der Zeit existierenden Gesellschaft  in Oberswanetien, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert habe und in der das Leben noch märchenhafte Züge trage. Dieses Narrativ hat allerdings enge Grenzen und wenig gemein mit dem tatsächlichen dortigen Leben, das sich in vielen Fällen an der Armutsgrenze bewegt, abgeschnitten ist von medizinischer Versorgung und politischer Teilhabe und nur geringen Zukunftsperspektiven bietet. Zudem werden die hohen Lebensstandards in der Blütezeit der Sowjetunion ausgespart, in der Swanetien im Fokus regionaler Entwicklung stand und eine große Zahl der Bevölkerung höhere Bildungs- und Hochschulabschlüsse erwarb.

Beiträge zu historischen Blicken auf Swanetien von außen auf www.stefan-applis-geographien.com/
SvanetiSeries | Gottfried Merzbacher (1843-1926) in Svaneti – The Country and Its People
SvanetiSeries | The Svans as members of the ‚Oriental Other‘ in the Soviet film „Salt for Svanetia“ (1930) by Mikhail Kalatozov | A visual commentary (Part I) | Part II 
SvanetiSeries | An overview on “Fragments from Svaneti” (1903) by Wilhelm Rickmer-Rickmers (Part I) | Part II | Part III | Part IV

Tourismus in Swanetien

Die meisten Besucher sind – sicher auch wegen der Vermarktungsstrategien einer global agierenden Tourismusindustrie – eher fehlgeleitet in ihren Vorstellungen über die Region. Sie hoffen beispielsweise bei ihrem Besuch in Uschguli darauf den Ort noch zu sehen, ehe er überlaufen sei. Eine australische Touristin erklärte uns beispielsweise, dass Europa sonst so voll sei, egal wohin man komme. Sie habe Swanetien besuchen wollen, solange alles noch ursprünglich sei. Um dieser Vorstellung von Ursprünglichkeit zu genügen, müssten die Bewohner allerdings auf eine Weise leben, die selbst ihre Großeltern nur noch in Ansätzen erlebt haben und die spätestens seit den 1950er Jahren der Vergangenheit angehörten. Bereits Ende der 1980er Jahre war die Hälfte der Bevölkerung Uschgulis vor den noch immer widrigen Lebensumständen geflohen und die Region in Folge katastrophenartiger Schneefälle verlassen. Trotz vieler Verbesserungen ist auch heute ein ganzjähriges Leben in Swanetien oft noch entbehrungsreich.

In Ortschaften wie Adischi und Ushguli bietet der Tourismus schlussendlich die einzige Möglichkeit, ein Haushaltseinkommen zu erzielen, mit dem sich eine mehrköpfige Familie versorgen lässt. In ganz Georgien leben Familien als Wirtschaftsgemeinschaften oft über mehrere Orte verteilt und sind so unabdingbar miteinander verbunden. Da die Preise für Fleisch, Wolle und Milchprodukte in Folge der hohen Bedeutung der Landwirtschaft zur Selbstversorgung in Georgien überaus niedrig sind, lohnt deren Verkauf oft nicht. Dennoch ist das mühselige Erzeugen landwirtschaftlicher Produkte für die Familien unerlässlich, da ihnen sonst das Geld zur Sicherung anderer Grundbedürfnisse fehlt. Möchte eine Familie also ihre Hofstelle erhalten und zudem das Familieneinkommen nicht durch den zusätzlichen Kauf von Lebensmitteln belasten, muss sie Touristen als Gäste aufnehmen oder in solch prekären Verhältnissen leben, dass z. B. eine Versorgung im Krankheitsfall nicht finanzierbar oder eine weiterführende Schulbildung für die Kinder ausgeschlossen ist.

Die Dörfer der Dorfgemeinschaft Uschguli und die Grenzen der Einstufung des Welterbe (Kartengrundlage: mapcarta)

Weltkulturerbe nach den UNESCO-Kategorien IV und V: Das in der Dorfgemeinschaft Uschguli ausgezeichnete UNESCO-Welterbe umfasst in einzelnen Monumenten und Gebäudegruppen von Türmen, Kirchen, Wohnbauten und Ställen ausschließlich den Ortsteil Tschashaschi mit einer Fläche von 1,09 ha. Dazu kommen 19,16 ha Pufferzone (1 km Radius um Tschaschaschi), worin die weiteren Ortsteile Murkmeli, Tschwibiani und Schibiani mit einzelnen besonderen Gebäuden und der landwirtschaftlich genutzten Fläche einbezogen sind. Nach Einschätzung der UNESCO-Kommission repräsentiert die gesamte Dorfgemeinschaft einen Kulturraum, in dem sich die Architektur mittelalterlichen Ursprungs auf einzigartige Weise mit einer beindruckenden, authentischen Berglandschaft verbinde (Kriterium IV) und sich dank traditioneller Formen der Landnutzung bis heute erhalten habe. Diese sei eng verbunden mit weiteren authentischen Merkmalen traditionellen swanischen Lebens (Kriterium V) und garantiere den Erhalt der bestehenden Mensch-Umwelt-Beziehung. Besonders hervorgehoben wird die Beschränkung auf lokales Baumaterial (Steinplatten aus Schiefer- und Kalksteinbruch) und traditionelle Handwerkstechniken – hierbei sind mit insgesamt 200 gezählten Gebäuden mittelalterlichen Ursprungs auch die weiteren Ortsteile Uschgulis einbezogen.

Bis heute besteht kein nachhaltiger Managementplan von Seiten des georgischen Staates, der unter Einbezug der lokalen Verwaltung und der Bedürfnisse der ortsansässigen Bevölkerung den Erhalt der Pufferzone (Bauwerke, Landschaftspflege, nachhaltige Landwirtschaft) garantiert. Diese Herausforderung kann ohne finanzielle Begleitung von außen nicht von den Einwohnern Uschgulis allein bewältigt werden – schließlich gehören zu dieser Pufferzone alle weiteren Ortschaften und ein erheblicher Teil der diese umgebenden Kulturlandschaft. Bau- und Erhaltungsmaßnahmen werden von der UNESCO finanziell jedoch grundsätzlich nicht unterstützt. Wie nachdrücklich das International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) seine Entscheidungsprinzipien vertritt, wird deutlich, wenn man sich die Begründung der Entscheidung aus dem Jahr 1996 genau ansieht. Mehrere darin enthaltene Abschnitte können durchaus als Warnung verstanden werden. Denn im ursprünglichen Antrag des Georgischen Staates war ganz Uschguli enthalten gewesen. ICOMOS jedoch begrenzte den Status auf Tschashaschi, erwähnte aber in diesem Zusammenhang auch die gesamte Hochgebirgsregion – gewissermaßen als Ansporn: Die Ortsteile Tschwibiani und Schibiani jedoch seien in der Sowjetzeit zu stark überformt worden und könnten deshalb nicht als Welterbe gemäß den UNESCO-Statuten gelten.

Geographische Reisebücher zu Swanetien

Die folgenden Publikationen erhielten Hauptpreis der Internationalen Tourismusmesse in Berlin, den ITB Destination Award für das Gastgeberland Georgien: „Swanetien entdecken. Ein Kultur- und Naturreiseführer für Georgien“ und den Bild- und Textband „Swanetien. Tradition und Moderne“. Beide Bücher sind Ergebnis des oben skizzierten Forschungsprojektes im Feld der Tourismusgeographie. Der ITB Book Award ist der wichtigste deutsche Buchpreis für Reiseliteratur; er wird in Zusammenarbeit mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels jährlich auf der ITB, der weltweit größten Tourismusmesse verliehen: https://www.itb.com/itb/downloads-alle-sprachen/itb-2023/itb-berlin-2023_14d_-laureaten-itb-buchaward-2023_frei.pdf

Wissenschaftliche Beiträge zu Wirkungen des Tourismus in Swanetien (Georgien)
Stefan Applis (2022). Crises around Concepts of Hospitality in the Mountainous Region of Svaneti in the North of Georgia. Tourism and Hospitality 3, no. 2: 416-434. https://doi.org/10.3390/tourhosp3020027
Stefan Applis (2019). On the influence of mountain and heritage tourism in Georgia: the exemplary case of Ushguli. Erdkunde 73(4), 259-275 https://doi.org/10.3112/erdkunde.2019.04.02

Text: Stefan Applis (2023)

Fotos und Abbildungen: Stefan Applis & Mitteldeutscher Verlag Halle (2022, 2023)