Geographien | doing geography

Räumlichkeiten & Zeitlichkeiten, Personen, Dinge & Tun | Notes on the creation of social space

Archiv des Wandels

Das Projekt „Geographien | doing geography“ geht in verschiedenen Räumen der Frage nach, wie Menschen Raum als soziale Wirklichkeit gestalten. Dabei interessieren mich vor allem Räumlichkeiten, in denen es zu Konflikten der Deutung kommt. Diese zeigen sich darin, dass verschiedene Gruppen um die Deutungshoheit des Raumes und damit aller darin vorkommenden Subjekte und Objekte konkurrieren. Dabei ist der Blick notwendigerweise immer zugleich in Vergangheit, Gegenwart und Zukunft gewandt.

Blick aus einer Wohnung in Chisinau. Die Eigentümerin, eine russische Bauingeneurin aus Sibirien, war Anfang der 1960er Jahre in die Moldawische SSR gezogen, um ein sowjetisches Vorzeigeviertel zu planen und den Bau zu begleiten. Nach 1990 war sie plötzlich Staatsbürgerin der neuen Republik Moldau und von ihrem Herkunftsland abgeschnitten.

ARCHÄOLOGIEN

Im Aufzeichnen von ARCHÄOLOGIEN geht es darum, Spuren im Raum nachzugehen, sie zu sichten, auch die Hinterlassenschaften vergangener Generationen zu sichern. Über die zu Tage gebrachten Fundstücke, die in Fotografien und Geschichten gefasst werden, soll sich in einem Mosaik zusammensetzen, was gemeinhin als Geschichte bezeichnet wird.

„Die Objekte freilegen, sie bergen, sie zum Sprechen bringen – das ist der Weg der Archäologie, der hier vorgeschlagen wird. (…) Die Welt wird betrachtet und lesbar durch die Geschichte der Dinge, durch die Analyse von Zeichen und Verkehrsformen, Orten und Routinen (…).“

(Karl Schlögel 2017, 21f.)

Dabei führt der Weg tief hinein in die Gegenwart und Vergangenheit der hierbei aufgesuchten Menschen. Im Sprechen über die Objekte, die vielleicht nur dem Besucher augenfällig werden, weil sie für die immer Anwesenden einfach so Teil ihrer Welten sind, lässt sich viel erfahren darüber, was für ihr Leben konstitutiv ist, was sie anerkannt wissen wollen, um sich selbst und andere anerkennen zu können.

„Everywhere homes are programs of culture in which the individual must find his image. Cultural deviance is nowhere more clearly reflected than in the selection and arrangement of material objects in a home. Acculturation (…) can be seen in the home setting.“

(Collier 1973, 240)

So führen die freigelegten Dinge, selbst wenn sie bereits unverborgen sichtbar waren, ganz unweigerlich zu den Menschen, da deren Tun nichts anderes ist als Umgang mit Dingen. Damit erwächst, wenn es gelingt, „das Ganze aus dem Detail und die Welt der anderen wird vielleicht ein weniger lesbarer, zumindest aber anerkennbar, durch die mitgeteilte Geschichte der Dinge“ (Schlögel 2017, 21).

Ethnographien

Menschen grenzen sich ab nach Außen, wann immer sie Beschreibungen ihrer Selbst geben. Keine Versicherung eines Wir oder Ich im eigenen Standpunkt kann ohne eine Bewertung des Anderen erfolgen. Mit dem Erfinden des Eigenen ist notwendig die Erfindung des Fremden verbunden.

„Kulturen und Ethnien sind nicht deckungsgleich, auch wenn ‚kulturell‘ und ‚ethnisch‘ oft synonym verwendet werden.“

(Beer 2013, 68)

ETHNOGRAPHIEN sind in Darstellungen von Erzählungen enthalten, in denen sich Menschen auf Vorstellungen eines ethnisch begründeten Andersseins beziehen. Sie sind deshalb immer auch Erzählungen vom Eigenen & vom Fremden. Ethnographisch ist der hier verfolgte Ansatz insofern, als Beschreibungen und Begründungen von Ethnizität wiedergegeben werden.

Eine junge Frau vor den Ruinen eines Gebäudes in Oberswanetien: Die Fotografie erzeugt beim Betrachten ein Bündel von stereotypen Vorstellungen des Anderen und Fremden.

Dieses Wiedergeben erfolgt über Photographien und Texte, die mit dem Ziel der Repräsentation sozialer Welten gebündelt wiedergegeben werden. Nicht immer erfolgt eine Analyse der Beschreibungen; findet sie dennoch statt, erfolgen Auswertungen der Ergebnisse insofern nicht ethnologisch, als der Auswertende Geograph ist und als solcher Zugänge zu den sozialen Welten oder Feldern sucht, die verschiedenen Wissenschaftsdidsziplinen verbunden sind.

„The human sense of a community is how people use space, how they distribute themselves, and how and where they flow together in sense of time and motion. The human mapping of a town would realisticaly appear as a scheme in time and space.“ (Collier 1973, 242)

Was vereint Menschen in ETHNIEN? Zunächst einmal die soziale Tatsache, dass sich Menschengruppen darauf berufen, sich von anderen Gemeinschaften zu unterscheiden – z. B. erklären sie ihre Zusammengehörigkeit über eine gemeinsame, auch angenommene, Geschichte, beziehen sich auf ein gemeinsames, auch angenommenes, Herkunftsgebiet und machen einen Kernbestand an kulturellen Gemeinsamkeiten aus in Wertvorstellungen, Normen und kulturellen Praktiken. Die dabei zum Ausdruck gebrachten Gemeinsamkeiten können meist nur durch starke Verallgemeinerungen als ausschließlich oder typisch gelten. Die Herstellung von Gemeinschaft ist dabei ganz zwangsläufig mit der Herstellung von Abgrenzung gegen andere verbunden. Zugleich produzieren auch die sogenannten Anderen Abgrenzung, indem sie eine ethnische Gruppe als solche herstellen, z. B. durch Merkmalszuschreibungen wie Traditionen, Lebensweisen oder Aussehen. Abgrenzungspraktiken verstärken einander nahezu unvermeidbar, da sie von Innen und Außen vollzogen werden. Meist herrscht innerhalb von Kollektiven mit starker ethnischer Identifikation das Ideal der Endogamie: Heiratspartner werden überwiegend innerhalb der Gemeinschaft gesucht.

Kollektive, die sich als ethnisch verstehen oder sich über gemeinsame Kultur definieren, teilen sich nie alle Bereiche, in denen sie sich als gleich und damit verschieden von anderen wahrnehmen.

„‚Der richtige Ausgangspunkt ist (…) nicht Struktur, sondern Aktivität. Das, was einer Gemeinschaft den Charakter einer Gesellschaft gibt, ist nicht Struktur, sondern ihre Kapazität, gemeinsam zu handeln‘ (Park 1927, 15), und das Leben besteht aus Menschen, die handeln (Prus 1994, 16).“ (Dwelling & Prus 2012, 19)

KULTUR wird hier und im Folgenden verstanden als das tradierte Wissen & Verhalten eines Kollektivs, bestehend aus expliziten und impliziten Mustern von und für Verhalten. Diese Muster finden ihren Ausdruck im Tun von Menschen. Das Tun ist dabei kulturell nie völlig geschlossen, sondern prinzipiell offen und dynamisch im Umgang mit Dingen, Menschen, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten sogenannter „anderer Kulturen“. Auch hier gilt, dass das Herstellen kultureller Eigenheiten ganz zwangsläufig mit der Herstellung von kultureller Andersheit oder Fremdheit verbunden ist. Das Prinzip der Offenheit berücksichtigt dabei die immer auch verfügbare Wahlmöglichkeit zwischen Abgrenzung oder Zugehörigkeit.

Die Beiträge unter dem Schlagwort ETHNOGRAPHIEN verfolgen auf methodologisch verschiedene Weise die Frage danach, über welche kulturellen Praktiken (ethnische) Kollektive hergestellt werden und gegen welche Kollektive sich diese Herstellungsprozesse richten.

Autor: © Stefan Applis (2018)

Bild: © Stefan Applis (2018)

Literaturhinweise:

Beer, B. (2013): Kultur und Ethnizität. In: Bettina Beer & Hans Fischer (Hrsg.): Ethnologie. Einführung und Überblick (53-74). Reimer: Berlin. Online verfügbar unter: http://www.bettinabeer.info/pdf/2011_Beer_Kultur-und-Ethnizitaet.pdf (Letzter Aufruf 2.10.2018)

Collier, John, Jr. (2003): Photography and Visula Anthropology. In: Paul Hockings (Ed.). Principles of Visual Anthropology (235-245). De Gruyter: Berlin, New York.

Dwelling, M. & Prus, R. (2012): Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. Springer VS: Wiesbaden.

Schlögel, K. (2017). Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. C.H. Beck: München.