Annäherung an den gebauten Raum in Ushguli
In einem Essay über die Ortsteile Ushgulis hebt der italienische Architekt Vinzenzo Pavan (2011), dessen Ausführungen hier gefolgt wird, die auf den ersten Blick irritierenden Ähnlichkeiten mit der baulichen Struktur der Stadtstaaten Italiens aus dem 13. Jahrhundert hervor: Gruppen von Türmen und angelehnten Steingebäuden, deren Anordnung keiner sogleich erkennbaren Logik folgt, hingeworfen in kompakten, scharf von der Umgebung abgetrennten Siedlungseinheiten, welche wegen ihrer Bauweise aus massigen Schieferplatten und Kalksteinbruch beim Betrachter den Eindruck von Festungen hervorrufen.

Erbaut aus dem Gestein des alpinen Gebirgszugs streben die Türme senkrecht nach oben, setzen eine vertikale Struktur in die Landschaft und bilden in ihrer ursprünglichen, auf das 11. bis 13. Jahrhundert zurückgehenden Form, selbst so etwas wie einen Arm oder Ausläufer des Gebirges oder eine Moränenlandschaft aus aufragenden Findlingen, die vor langer Zeit vom Gletscher des Schchara zurückgelassen oder herabbewegt worden waren von dessen Frühjahrsströmen.



Doch hat die Siedlung im Unterschied zu allen europäischen Dorf- und Stadtanlagen derselben Zeit keine Stadtmauern oder Verteidigungswälle. Da nun der Festungscharakter so eindeutig ist, stellt sich die Frage, wessen Verteidigung die Türme dienten. Es scheint zunächst weniger um die gemeinschaftliche Verteidigung der Bewohner der Siedlung zu gehen, als um den Schutz der Bewohner der Türme. Ebenso massiv liegen die manchmal an die Türme angelehnten, aber auch allein stehenden, Gebäude, die sogenannten Machubis, hervor. Diese waren Stall- und Wohnung, um Vieh und Mensch scheinbar gleichermaßen Schutz zu geben und somit alle lebenden und lebensnotwendigen Ressourcen in unmittelbarer Nähe zu bewachen und zu bewahren.
Die Literatur zu Ushguli bietet eine breite Palette an Feinden an, gegen die sich die Gebirgsbewohner vermutlich hatten zur Wehr setzen müssen seit der Besiedlung Ushgulis im 6. Jahrhundert an einem Ort, der einem leichten natürlichen Zugang entzogen ist. Zugleich ist Ushguli aber ein Ort, der an natürlichen Grenzen wie Pässen und Gebirgszügen gelegen ist und somit, wenn auch unter äußersten Mühen, immer von allen Seiten zugänglich war.
Vor allem scheint die Abwesenheit von Schutzmauern, welche die ganze Siedlung oder größere Einheiten einfassen, auf ein soziales und ökonomisches Leben in engen Abstammungsgemeinschaften oder Clans hinzuweisen, die sich bisweilen auch voreinander zu schützen hatten. Zugleich waren sie aber auch auf die familienübergreifende Nutzung von Wegen, Feld- und Waldflächen angewiesen und auch auf die Vereinigung ihrer Kräfte gegen äußere Mächte, die das Vermögen einzelner Abstammungsgemeinschaften, sich zu verteidigen, überstiegen. So dienten die Türme durch ihre bauliche Trennung von allen anderen Gebäuden zuvorderst dem Schutz ihrer Bewohner.
Typologie des gebauten Raumes | Der Wehrturm
In Ushguli tragen fast alle noch stehenden Türme unter ihren Spitzen Wehrerker aus sogenannten Pechnasen oder Kragengewölben und einen Dachstuhl aus Holzbalken, der ein Giebeldach formt. So entsteht der Eindruck, als säße ein kleines Haus auf dem sich nach oben, aus Gründen der Statik leicht kreisbogenförmig verjüngenden Turmbau auf. Die Türme ohne Wehrerker, von denen aus die Gebäude verteidigt werden konnten, tragen Giebeldächer oder nach einer Seite hin abfallende Flachdächer. Die Dächer aller Türme sind mit Schieferplatten gedeckt, manche auch begehbar über terrassenartige Aufbauten. Die weniger mächtigen, aber ebenso hohen Türme erfüllten vermutlich auch Überwachungsfunktionen oder dienten als letzte Zuflucht ausschließlich der Verteidigung. Gewiss repräsentierte die Zahl der Türme aber immer auch die Macht einzelner Abstammungsgemeinschaften.
Das Innere der vier- bis fünfgeschossigen Türme mit einer durchschnittlichen äußeren Grundfläche von fünf mal fünf Metern zeigt zudem Nutzungen als Getreidespeicher und Lager und auch als Wohnraum auf Zeit mit Kochstellen. Bislang fehlt leider eine vollständige Dokumentation und zeichnerische Erfassung des Inneren aller noch stehenden Türme ebenso wie eine Bewertung ihrer baulichen Substanz, um einen weiteren Verlust an Baudenkmälern zu verhindern.

Das Erdgeschoß und bei manchen mächtigen Türmen auch das aufsitzende erste Geschoß offenbaren eine weitere bauliche Besonderheit insofern, als sie gemauerte Spitzbodengewölbedecken enthalten, die den Eindruck erwecken, als befinde man sich in einem kleinen Haus – hierdurch werden die gewaltigen Kräfte der schweren Bauwerke auf die ungefähr einen Meter starken, an manchen Stellen noch mächtigeren Außenmauern und in das Fundament abgeleitet, wodurch die Standfestigkeit der Wehrtürme zusätzlich erhöht wird. Manche Türme enthalten innen laufende, verdeckte Steintreppen, die – aus Verteidigungsgründen – das Erdgeschoß von den Obergeschoßen abtrennen, z. B. durch einen Zugang von außen, bei anderen ist das erste Geschoß nur durch eine einziehbare Holzleiter erreichbar. Pavan (2011) zieht aus der Tatsache, dass sich die Verteidigungselemente der Gebäude erhalten haben und in Variationen auftreten, den Schluss, dass diese zum einen über die Jahrhunderte hinweg notwendig gewesen sein müssen und zum anderen angepasst wurden an sich verändernde Formen der Bedrohung, z. B. durch neue Waffenarten.
Typologie des gebauten Raumes | Der Machubi
Der Machubi ist das zweite, für swanischen Siedlungen typische Bauwerk – genau genommen wird aber lediglich das Erdgeschoß eines zweigeschoßigen Gebäudes (Kor) als Machubi bezeichnet. Meist steht aber die Bezeichnung als pars pro toto auch für das gesamte Gebäude. Das Erd- oder Bodengeschoß beherbergt hier als Winterwohnstätte sowohl Menschen als auch Tiere, um die Körperwärme aller Lebewesen für die kalten Winter zu nutzen. Im Zentrum des Gebäudes befindet sich die abzugslose Feuerstätte, die von einer Hängevorrichtung aus Holz überdeckt ist, auf der Schieferplatten liegen. Diese verhindern ein Hochschlagen der Flammen in das darüber liegende Stockwerk, den Darbazi, wo im Winter Heu für die Tiere und Nahrungsmittel für die Menschen gelagert sind. Das flache Satteldach des Steingebäudes, das sparrenlos nur aus querlaufenden Balken aufgebaut ist, ist mit Schieferplatten gedeckt.




Deren schwere Last, die sich im Winter noch durch die aufliegende, zugleich isolierende Schneeschicht von zumindest einem Meter erhöht, wird im Zentrum durch eine massive Holzsäule gestützt, auf der übereinander gelagerte Balken eine, dem Winkel des Satteldachs folgende Dreiecksform erzeugen und so das auf den Balken lagernde Gewicht abfangen und in die Senkrechte der zentralen Holzsäule ableiten.
Das Erdgeschoß enthält, je nach Größe des Gebäudes, an bis zu vier, in Ushguli überwiegend nur an zwei Seiten einen zwei- bis dreigeschossigen Holzeinbau, der einem durchgehend verlaufenden Stockbett- oder einem sehr tiefen Regalsystem ähnelt, welches nach vorne hin verschalt ist. An unterster Stelle stehen im Winter die Kühe, deren Köpfe durch Öffnungen zu den vorgelagerten Futtertrögen herausragen. Auf der nächsten Ebene stehen Schafe, Ziegen und Kleinvieh wie Hühner, auf der obersten Eben sind die Betten der Menschen angebracht. Die gesamte Konstruktion ist reich verziert mit Schnitzereien, die, je nach Ausführung und Güte, auf den Wohlstand der Familien hinweisen.




Um die Feuerstelle herum finden sich auf dem mit Schieferplatten ausgelegten Boden weitere Möbelstücke wie Holzsessel für das Familienoberhaupt, Bänke, Regale, Wiegen für Neugeborene und Kleinkinder oder Werkgegenstände zum Weben, Spinnen, Werkzeug- und Möbelbau usw. In Ushguli präsentiert sich ein Machubi als ethnographisches Museum, das mit vielen originalen Gegenständen ausgestattet ist, ganz oben im Ortsteil Schibiani (Chibiani).






Im Wechsel zwischen Machubis, Türmen und reinen Stallgebäuden spielte sich so das Leben der Familien im Jahresgang ab.
Typologie des gebauten Raumes | Fortified house oder Turmhaus
Ein in dieser Ausprägung nur in Ushguli vorkommender Gebäudetypus wird in der Literatur als befestigte Wohnstätte (fortified house) oder Turmhaus (tower house) bezeichnet. In der georgischen Literatur findet sich diese Ausgliederung eines gesonderten Gebäudetypus, hierauf muss hier hingewiesen werden, allerdings nicht. Von außen her den Türmen ähnlich mit mindestens drei Geschoßen und Wehrerkern unter der Dachkonstruktion des dritten oder vierten Stockwerks, ist es breiter und tiefer angelegt als jene. Die Innenräume folgen dem Vorbild der Machubis, die Schutzsysteme mit Kombinationen aus innen- und außenliegenden Treppen enthalten.



Alle drei Gebäudearten sind errichtet aus unregelmäßigen Quadern und Platten von Kalkbruchstein und Schiefer, verbunden mit kalk- und sandbasiertem Mörtel. Manche der Türme weisen heute noch Reste von Kalkputz auf, bei den meisten zeigt sich an der Oberfläche allerdings das vielfarbige Muster ihrer steinernen Hülle.
Phasen baulicher Veränderung in der Berdörfern Oberswanetiens in der Sowjet- und Post-Sowjetzeit
Dass die Zahl der Türme zurückgeht, ohne dass dies in einer ausgeprägten Ruinenstruktur zu Tage tritt, wie vor allem in den Ortsteilen Tschwibiani und Schibiani auffällt, hat zwei Gründe: Zum einen wurde das Baumaterial von eingefallen Türmen oder anderen Gebäuden schon immer weiterverwendet, um neue Gebäude zu errichten und alte zu erweitern. Denn es war unter großen Mühen von vorangegangenen Generationen gewonnen worden – hier geben die unterschiedlichen Mörtel auf Kalk- oder Zementbasis auch Aufschluss über verschiedenen Bauphasen. Zum anderen wurden in der Zeit der Sowjetunion Türme als Symbole einer archaischen Zeit in großer Zahl abgerissen, um Verwaltungs- und Nutzgebäude der neu gegründeten Kolchose, u. a. die Schule, daraus zu bauen und somit den Anbruch in die neue Zeit auch in der Architektur zu bestätigen.

Dies galt gleichermaßen für die neu errichteten Wohngebäude mit großen Fenstern und vorgebauten, verglasten Terrassen, die Licht und Wärme ins Haus ließen und somit das Leben in verrauchten Räumen beendeten.
Der Vergleich von wenigen erhaltenen Fotografien, vermutlich aus den späten 60er bis frühen 70er Jahren, mit der heutigen Situation zeigt, dass der Eingriff während der Sowjetzeit der erheblichste war in den Ortsteilen Tschwibiani und Schibiani, während der Ortsteil Tschaschaschi seit 1971 als Uschguli-Tschaschaschi-Museum geschützt wurde.



Weltkulturerbe in Ushguli nach UNESCO-Kategorien IV und V
Das in Ushguli ausgezeichnete UNESCO-Welterbe umfasst in einzelnen Monumenten und Gebäudegruppen von Türmen, Machubis, befestigten Wohnstätten, Kirchen und weiteren original erhaltenen Gebäuden im Kern ausschließlich den Ortsteil Tschaschaschi (Chazhashi) mit einer Fläche von 1,09 ha. Dazu kommen 19,16 ha Pufferzone (1 km Radius um Tschaschaschi), worin die weiteren Ortsteile mit der erhaltenen historischen Bausubstanz und die landwirtschaftlich genutzte Kulturlandschaft einbezogen sind.
Nach Einschätzung der UNESCO-Kommission repräsentiert Ushguli einen Kulturraum, in dem sich die Architektur mittelalterlichen Ursprungs auf einzigartige Weise mit einer beindruckenden, authentischen Berglandschaft verbinde (Kriterium IV) und sich dank traditioneller Formen der Landnutzung bis heute erhalten habe. Diese sei eng verbunden mit weiteren authentischen Merkmalen traditionellen swanischen Lebens (Kriterium V) und garantiere den Erhalt der bestehenden Mensch-Umwelt-Beziehung. Besonders hervorgehoben wird die Beschränkung auf lokales Baumaterial (Steinplatten aus Schieferbruch und Kalksteinbruch) und traditionelle Handwerkstechniken – hierbei sind mit insgesamt 200 gezählten Gebäuden mittelalterlichen Ursprungs auch die weiteren Ortsteile Ushgulis einbezogen.
Aufgrund von baulichen Veränderungen durch menschliche Tätigkeit (v. a. Tschwibiani und Schibiani, vgl. Applis 2018) oder Zerstörung des architektonischen Erbes durch Naturereignisse (vgl. Alcaraz Tarragüel 2012, 2011) wie Lawinenabgänge und Erdrutsche (v. a. Murqmeli) sind die anderen Ortsteile nicht als Gebäudeensembles direkt geschützt und waren es auch nicht in der Sowjetzeit. Dennoch dürfen Veränderungen gemäß der Welterbe-Kommission eigentlich nur mit staatlicher Genehmigung erfolgen, da ein Verhindern einschneidender baulicher Veränderungen auch in den anderen Ortsteilen eine Voraussetzung für den Erhalt des Status als UNESCO-Welterbe darstellt.
Bis heute gibt es allerdings keinen nachhaltigen Managementplan von Seiten des georgischen Staates, der unter Einbezug der lokalen Verwaltung und vor allem der ortsansässigen Bevölkerung den Erhalt der Pufferzone (Bauwerke, Landschaftspflege, nachhaltige Landwirtschaft, sanfter Tourismus) garantiert; 2008 wurde allerdings zumindest ein grundlegender Plan entworfen. Bau- und Erhaltungsmaßnahmen werden von der UNESCO finanziell nicht gefördert und dem georgischen Staat scheinen weitestgehend die Mittel zur Unterstützung der lokalen Bevölkerung beim Erhalt der Gebäude zu fehlen (vgl. Engel et al. 2006 u. Khartishvili, et al. 2019).
Text: © Stefan Applis (2019)
Bilder: © Stefan Applis (2015, 2018, 2019)
Literaturempfehlungen
Alcaraz Tarragüel, A., Krol, B., Westen, C: (2012). Analysing the possible impact of landslides and avalanches on cultural heritage in Upper Svaneti, Georgia. Hrsg.: University of Twente. Faculty of Geo-Information Science and Earth Observation. Enschede.
Alcaraz Tarragüel, A. (2011). Developing an approach for analyzing the possible impact of natural hazards on cultural heritage: a case study in the Upper Svaneti region of Georgia. Thesis-Paper. Hrsg.: University of Twente. Faculty of Geo-Information Science and Earth Observation. Enschede, S. 87–92.
Applis, S. (2018). Tourism sustains, and threatens, Georgia’s highland heritage. Tales of an authentic society living at the edge of time fail to account for higher living standards in the Soviet heyday. eurasianet.org.
Engel, E., von der Behrens, H., Frieden, D., Möhring, K., Schaaff, C., Tepper, C., Müller, U. & Prakash, S. (2006). Strategic Options towards Sustainable Development in Mountainous Regions. A Case Study on Zemo Svaneti, Georgia. SLE Publication Series, Faculty of Agriculture and Horticulture. Mestia, Berlin.
Khartishvili, L., Muhar, A., Dax, T. & Khelashvili, Y. (2019): Rural Tourism in Georgia in Transition: Challenges for Regional Sustainability . Sustainability 11(2), 410, S. 5-6.
Pavan, V. (2011). Svaneti Towers, Fortified Stone Villages in the Caucasus. In Glocal Stone. VeronaFiere – 46th Marmomacc Fair.
Stadelbauer, J. (2018). Schützen oder nutzen? Konflikte über das Bauerbe in Georgien. In Osteuropa. Band 68, Nr. 7, 2018, S. 47.
UNESCO (Hrsg.) (1996). World Heritage List – Upper Svanetia.