Im Westen Georgiens ist der weithin verfallene Kurort Tskaltubo einer der Orte, dessen Entwicklung der georgische Staat durch internationale Partnerschaften anzuschieben versucht. Wegen der Besiedelung der Sanatorien und Erholungsheime durch Binnenflüchtlinge in Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen in Abchasien 1992/93 ist dessen Entwicklung bis heute behindert. In Tskaltubo gehören die Binnenflüchtlinge zur Gruppe der besonders gefährdeten, in Armut lebenden Menschen in Georgien. Am Beispiel des Basars Tskaltubos lassen sich grundlegende strukturelle, bis heute nicht gelöste Probleme von Armut in Georgien nachzeichnen.
Das 15 km nordwestlich von Kutaissi, der zweitgrößten Stadt Georgiens gelegene Tskaltubo war in der Sowjetzeit einer der größten Kurorte des Republikverbundes. Es wurde bereits im 19. Jahrhundert als Heilbad betrieben und im Zuge der Kurortpolitik zur Aufrechterhaltung der sozialistischen Arbeitskraft zwischen 1939 und 1955 auf- und in einer zweiten Hochphase der 1970er Jahre ausgebaut.
Nach dem Abchasien-Krieg 1992/93 wurden dort ca. 10.000 der rund 250.000 vertriebenen Georgier untergebracht. Da diese seit mehreren Generationen in Abchasien gelebt hatten, verfügten sie nach Überführung allen staatlichen Wohneigentums in Privateigentum im Jahr 1992 (vgl. Zhvania 2010 zum Überblick zur Privatisierung von Wohneigentum in Georgien) kaum über Grundbesitz im restlichen Georgien. Deswegen konnten vielen von ihnen die Kurhotels, Sanatorien oder Erholungsheime bis heute nicht verlassen, in die sie einquartiert worden waren, und sich ein neues Leben aufzubauen (vgl. Mestvirishvili 2012: Überblick zu Strukturen sozialer Ausgrenzung in Georgien). Die Flüchtlinge waren auf die Unterkunft in Kurhotels und Sanatorien angewiesen und die weiteren Ressourcen, die diese boten: Kurparks verwandelten sich in Gärten und Viehweiden, Bäume wurden geschlagen, Tische, Stühle, Theken und Parkette der Speisesäle verwendet, um kochen und heizen zu können. Nach und nach verfielen so die Gebäude und Parkanlagen.
Die Lebensumstände der Menschen in den ehemaligen Sanatorien, Hotels und Erholungsheimen sind mehr als prekär (s. u.) – eigene Beobachtungen und Aufzeichnungen in den Jahren 2017 und 2018 bestätigen die diesbezügliche Einschätzungen von Mouravi-Tarkhan (2009). Positiv kann allenfalls ergänzt werden, dass die Bewohner, was ihnen möglich ist, investieren, um den sie unmittelbar umgebenden privaten Lebensraum zu erhalten. Dennoch sind die in ganz Georgien in Flüchtlingsunterkünfte umgewandelten Krankenhäuser, Gewerbeanlagen, Kindergärten, Schulen, Sportgelände usw. i. d. R. in erbärmlichem Zustand. In einer Zusammenschau aller aktuell zur Verfügung stehenden Berichte verschiedener Nicht-Regierungsorganisationen und staatlicher Quellen kann festgehalten werden, dass sich die Lebensbedingungen in den letzten 25 Jahren nicht wesentlich verbessert haben, ferner, dass die vielerorts zur Umsiedlung von Bewohnern aus Collective Centres neu geschaffene Infrastrukturen bereits wieder im Verfall begriffen sind.
Der Basar ist der Ort, an welchem die Menschen aus Tskaltubo und den umliegenden kleineren Orten zusammenkommen. Er ist der zentrale Verkehrsknotenpunkt, an dem die Busse halten und Taxifahrer auf Kunden warten. Das Basargebäude selbst ist ein im Stil der sowjetischen Moderne errichteter Bau aus Glas, Eisen und Beton – die bauliche Substanz ist mehr als angegriffen. Dennoch werden Erdgeschoß und erstes Obergeschoß für den Verkauf von Lebensmitteln, Kleidung, Elektro- und Elektronikartikeln und weiteren Artikeln des täglichen Bedarfs genutzt.
Die hohe Zahl an Fahrzeugen vor dem Marktgebäude darf hier wie andernorts in Georgien aber nicht als Ausdruck von Wohlstand gewertet werden. Die Fahrzeuge sind oftmals in einem Zustand, in dem sie in europäischen Staaten nicht mehr als fahrtüchtig eingestuft sind und deswegen nach Georgien verbracht wurden. Die hohe Arbeitslosigkeit führt dazu, dass die Fahrer ohnehin nichts wesentlich anderes zu tun haben, als den Tag mit Warten zu verbringen. Die Fahrtkosten sind niedrig (ca. 1 € im Taxi pro Person von Kutaissi nach Tskaltubo, 0,30 € für die Fahrt im Bus), dennoch können sich die Ärmsten die Fahrt nicht immer bei Bedarf leisten. Insbesondere der Bereich hinter dem Basar gibt Ausdruck von den mangelnden finanziellen Möglichkeiten der Menschen und der Notwendigkeit für über 50% der Bevölkerung ihre Haushaltskosten über den Anbau von Obst- und Gemüse zu senken.
In Georgien sind die Lebensumstände stark vom Zufall abhängig und liegen entsprechend eher außerhalb des Einflussbereichs der Menschen. Mit der ökonomischen und sozialen Krise ging ein Verfall von Fähigkeiten einher, der durch schwache Bildungssysteme verstärkt wurde. Die angeführten Ursachenfelder sind intergenerationell unabhängig, weshalb sich Armut reproduziert und eine hohe Persistenz hat – entsprechend kommt in Georgien bis heute Arbeitsmigration, Handel mit Selbsterzeugtem auf kleinen Märkten und Familien- und Clannetzwerken eine hohe Bedeutung zu (vgl. Gugushvili 2011, 16-18).
Das Caucaus-Barometer gab für 2017 an, dass 22% der Bevölkerung im Laufe eines Monats nicht über genügend Geld verfügte, um für sich und ihre Familie täglich Essen zu kaufen; 30 % der Bevölkerung hätten monatlich zwar genügend Geld für Nahrung, nicht aber für Kleidung. 24 % sind angewiesen auf den Verkauf von aus kleiner Subsistenzlandwirtschaft stammenden Erzeugnissen, nur 40% beziehen mehr oder weniger regelmäßige Löhne. 10% der Bevölkerung gaben an, dass sie 250 USD im Monat benötigten als Untergrenze an Haushaltseinkommen für mehrere Personen, um ein „normales Leben“ führen zu können – 47% der Bevölkerung verfügten aber lediglich über ein Haushaltseinkommen von 50-250 USD; die Renten lägen durchschnittlich bei 50 USD im Monat (vgl. Caucasus Barometer 2017), während 59 % der Bevölkerung auf diese Zahlungen zur Unterstützung des Haushaltseinkommens im Familienverbund angewiesen seien. Seit einigen Jahren wird von einer zunehmenden Verschuldung der Haushalte berichtet, die Geld aufnehmen müssten, um – meist vergeblich – zu versuchen, sich aus der Armutsfalle zu befreien (vgl. Lomsadze 2018).
In Tskaltubo und an vielen anderen Orten in Georgien, an denen Binnenflüchtlinge aus den kriegerischen Konflikten in Abchasien und Süd-Ossetien untergebracht wurden, sind internationale und nationale Hilfsorganisationen tätig, die nicht nur die ökonomischen Verhältnisse und den Zugang zu Bildung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern suchen, sondern auch im politischen und psycho-sozialen Bereich unterstützend arbeiten, u. a. mit Frauen und alten Menschen als besonders verwundbare Personengruppen. Sie berichten regelmäßig zu Lebens- und Entwicklungsbedingungen, um nationale und internationale Aufmerksamkeit für die besonderen Bedürfnisse der IDPs (Internally Displaced People) zu gewinnen (vgl. u. a. Heinrich-Böll-Stiftung South Caucasus 2012, 2010).
Die IDP-Bewohner Tskaltubos fallen unter die Gruppe der Binnenflüchtlinge, die 1992/1993 in sogenannten Gemeinschaftszentren untergebracht worden waren (CC, Collective Centres), zu denen außer Sanatorien und Hotels noch ehemalige Industriegelände, aufgegebene Krankenhäuser oder Sportgelände gehörten, allesamt in staatlichem Eigentum. Dort stellen die IDPs eine besonders verwundbare Gruppe dar. Über die Ergebnisse eigener Interview-Erhebungen, online verfügbare Quellen zur allgemeinen Menschenrechtslage in Georgien und zur Lage von Binnenflüchtlingen im Besonderen (u. a. Janelidze 2014, Mouravi-Tarkhan 2009, Public Defender of Georgia 2016; World Bank 2016) und Berichte des georgischen Staates über Maßnahmen zum Umgang mit den IDPs können die folgenden Problemfelder identifiziert werden, welche diese Gruppe unter der Gesamtheit der verwundbaren Personen als besonders verwundbar ausweisen:
- eingeschränkte Haushaltsressourcen als Grundlage zur Entwicklung: Mangel an sicherem eigenen Grund für agrarische Subsistenzwirtschaft, Mangel an Nutz-Objekten wie Werkzeugen und Haushaltsgegenständen
- Mangel an stabilen sozial-ökonomischen Netzwerken in Folge von Dis-Lokation (zur Bedeutung informeller Netzwerke in Georgien vgl. Aliyev 2013 und Rudaz 2015)
- Unsicherheit und Entwicklungseinschränkungen der Lebensführung hinsichtlich der persönlichen Zukunft (besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche, behinderte Menschen, alte Menschen)
- gesundheitliche Handicaps: alle Felder von Traumatisierung und Depression, Rausch- und Suchtmittelabhängigkeit, Erkrankungen durch hygienisch-prekäre Lebensumstände, Mangelerkrankungen durch prekäre Versorgung mit Nahrungsmitteln (zu den Strukturen sozialer Exklusion in Georgien vgl. Mestvirishvili 2012; zu Daten und Ausprägungen vgl. Tarkhan-Mouvari 2009)
- Mobilitätseinschränkung durch Ressourcenmangel
Recherchen in den Jahren 2017/18 vor Ort zeigten, dass ein Großteil der Flüchtlinge in neu errichteten Wohnraum am Stadtrand Tskaltubos nicht umziehen kann, weil der georgische Staat die neuen Wohnflächen nahe am Rohbauzustand übergibt, und die Betroffenen die Wohnungen nicht aus eigenen Mitteln bezugsfertig machen können. Viele Bewohner ehemaliger Sanatorien und Erholungsheime wehren sich auch gegen eine Umsiedelung, weil die Verhältnisse, in die sie verbracht werden, oftmals infrastrukturell schlechter ausgestattet sind als die prekären Bedingungen, unter denen sie sich eingerichtet haben während der letzten 25 Jahre. Generell dürfen die Umsiedelungen, welche ohne weitere Infrastrukturmaßnahmen an den Zielorten erfolgen, als ausgrenzende Maßnahme und ein reines Verschieben der betroffenen Personengruppe gelten. Denn Hauptzielorte wie Zugdidi (Grenzlage zu Abchasien) oder der Kurort Borjomi waren selbst Erstziele der Flüchtlingsverbringung nach Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in Abchasien.
Text: © Stefan Applis (2018)
Bilder: © Stefan Applis (2018, 2017)
Literaturhinweise
Aliyev, H. (2013): Informal Networks in the South Caucasus’s Societies. In: Caucasus Analytical Digest, 50, 2-6. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-50-2-4.pdf (7.10.2018)
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Lomsadze, G. (2018): Georgia’s predatory lenders are punishing the poor. Georgian indebtedness has reached crisis proportions. And lenders take scant look at customers’ creditworthiness. Eurasianet (15.8.2018). Verfügbar unter: https://eurasianet.org/s/georgias-predatory-lenders-are-punishing-the-poor (letzter Aufruf 24.8.2018)
Mestvirishvili, N. (2012): Social Exclusion in Georgia: Percieved Poverty, Perticipation and Psycho-Social Wellbeeing. In: Caucasus Analytical Digest, 40, 2-5. Abrufbar unter: http://www.laender-analysen.de/cad/pdf/CaucasusAnalyticalDigest40.pdf (7.10.2018)
Tarkhan-Mouravi, G. (2009): Assessment of IDP Livelihoods in Georgia: Facts and Policies. Tbilisi, UNHCR. Verfügbar unter: http://www.unhcr.org/4ad827b12.pdf (letzter Aufruf: 7.10.2018)
Public Defender of Georgia (2016): Human Rights Situation of Internally Displaced People in Georgia: Verfügbar unter: http://www.ombudsman.ge/uploads/other/4/4522.pdf (letzter Aufruf 24.8.2018)
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Zhvania, I. (2012): Housing in Georgia. In: Caucasus Analytical Digest, 23, 2-5. Abrufbar unter: http://www.laender-analysen.de/cad/pdf/CaucasusAnalyticalDigest23.pdf (7.10.2018)
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Caucasus Research Resource Centers 2017. Caucasus Barometer. Tbilisi. Verfügbar unter: http://www.crrccenters.org/caucasusbarometer (letzter Aufruf: 29.7.2017)
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Janelidze, G. (2014): IDPs Residing in Tskaltubo Request New Accommodations. Web Portal on Human Rights in Georgia. Abrufbar unter: http://humanrightshouse.org/Articles/20604.html (letzter Aufruf 24.8.2018)