In Georgien lebt der Großteil der Bevölkerung in prekären Lebensverhältnissen. Seit einigen Jahren allerdings eröffnet ein sich stabilisierender Tourismus Entwicklungsperspektiven für einige Menschen. Dies sind zunächst diejenigen, die das Grundeigentum, welches sie nach der Privatisierung staatlicher Arbeiterwohnstätten und der Rückgabe der Hofstätten aus den staatlichen Agrarbetrieben erhielten, nicht durch Krieg oder ökonomische Krisen verloren. Begünstigt sind diesbezüglich etablierte Tourismusorte wie Tbilisi, Kutaissi, Borjomi oder Batumi, in denen die Menschen schon während der Sowjetzeit Privatzimmer vermieteten und die nicht innerhalb der Konflikregionen Abchasien und Südossetien liegen. Meist sind jedoch hohe Investitionen und damit Schuldenaufnahmen notwendig, um für Touristen aus europäischen Staaten, den USA oder Israel einen angemessenen Standard zu erreichen.
Im in Ober-Swanetien gelegenen Ushguli bietet der Tourismus heute letztlich die einzige Möglichkeit, ein Haushaltseinkommen zu erzielen, das eine mehrköpfige Familie, die zumeist aus ökonomischen und sozialen Gründen über mehrere Orte in Georgien verteilt lebt, zu versorgen, da die Preise für Fleisch, Wolle und Milchprodukte in Folge der hohen Bedeutung der Subsistenzlandwirtschaft in Georgien überaus niedrig sind. Möchte eine Familie also ihre Hofstelle erhalten, muss sie Touristen als Gäste bekommen oder in solch prekären Verhältnissen leben, dass z. B. Versorgung im Krankheitsfall ausgeschlossen oder eine weiterführende Schulbildung für die Kinder ausgeschlossen ist.

Spannungsfelder durch touristische Einflüsse

Dadurch ergeben sich für die Bewohner des Dorfes vielfache Spannungsfelder. Zunächst einmal treten die dort lebenden Familien in einen ökonomischen Konkurrenzkampf um die Touristen, innerhalb dessen sie nur konkurrenzfähig sind, wenn sie sich gegenüber anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft abgrenzen durch Anpassung an die Erwartungen der Gäste (niedrige Preise, Anpassung an Erwartungen an Ursprünglichkeit, Komfort, Essen, zusätzliche Leistungen). Der Tourismus gefährdet also einerseits etablierte Prozesse der Identitätsbildung und Anerkennung unter den Mitgliedern der Ushguli-Gemeinschaft, die sich vielfach gerade durch Gemeinschaftsleistungen über die seit 30 Jahren anhaltende ökonomische Krise hat erhalten können. Andererseits ermöglicht er einen Erhalt oder ein Neu-Beleben der Hofstellen und liefert damit zugleich die ökonomische Voraussetzung für eine weitere Lebensführung in Ushguli.
Darüber hinaus kommt es zu Krisenerfahrungen durch den Anstieg der „Multiplizität von Lebenswelten“ (vgl. Prus 1997, 28) kombiniert mit vielfachen Erfahrungen des Fremden und einer Verunsicherung der Vorstellungen des Eigenen.

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Methodisches Vorgehen

Zunächst geht es auf der Ebene der konkreten Objekte im Raum (Gebäude, Nutzgegenstände etc.) um die fotographische, zeichnerische und kartographische Erfassung des Ist-Zustandes des dörflichen Raumes als Abbild vielfacher Transformationen.

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Hierbei wird Bezug genommen auf das Konzept einer Archäologie des Sowjetimperiums durch Schlögel 2017, 21: „Die Welt wird betrachtet und lesbar durch die Geschichte der Dinge, durch die Analyse von Zeichen und Verkehrsformen, Orten und Routinen […].“
Das fotographische Erfassen bezieht die Vorstellungen der Dorfbewohner mit ein durch vielfache Rückmeldung über ein Einbringen der Fotografien in ihre Räumlichkeiten & Zeitlichkeiten.

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Auf diese Weise kann ein Zugang eröffnet werden zu deren gemeinschaftsbezogenen, familiengeschichtlichen und individuell-biografischen Narrativen; dies erfolgt über teilnehmende Beobachtung und Befragungen (Mischung aus analytisch im Vorfeld und im fortschreitenden Prozess gewonnenen Leitfragen).
Eine Vor-Auswahl geeigneter Informanten ist durch zwei Vorerhebungen getroffen und erweitert sich durch die fortschreitende Arbeit im Feld; angestrebt wird eine idealtypische Verteilung über Gruppen (s. o.) und Funktionsträger in der Dorfgemeinschaft (u. a. Älteste, Arzt, Lehrer).Die gewonnen Daten (Bildmaterial, Textmaterial, historische Dokumente etc.) werden im fortschreitenden Prozess mit folgenden Forschungsfragen konfrontiert:

Wirtschafts- und sozialgeographische Aspekte

  • Welche Netze der Einkommenssicherung liegen vor (Tourismus, Landwirtschaft, Angestelltenverhältnisse – innerfamiliär, intergenerationell – staatliche Leistungen, z. B. Pensionen)?
  • Welche Rolle spielen Migration und inner-/interfamiliäre Wohnortsdiversifizierung bei der Einkommenssicherung?
    Welche Bedeutung kommt traditionellen Rechtsinstanzen zu bei der Regelung von bspw. Weideflächenkonflikten, Zugang zu Transportmitteln, Nutzung von Brachflächen etc.?
  • Welche ökonomischen, sozialen und räumlichen Auswirkungen hat der touristische Einfluss?

Ethnographisch-soziologische Aspekte

  • Welche Kontinuitäts- und Stabilitätserzählungen lassen sich rekonstruieren (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft)?
  • Welche Bruchsituationen lassen sich identifizieren? Welche Ursachen werden Bruchsituationen zugewiesen (Modernität, Tradition, übergeordnete Mächte, Tourismus?
  • Lassen sich Unterschiede in Kontinuitäts- und Brucherfahrungen rekonstruieren, die von den Arten der Beteiligten abhängen (permanente Residenten, permanente Rückkehrer, Generationen etc.)?
  • Welche Praktiken an Bewältigungsstrategien zeigen die Beteiligten?

Konfliktlinien

Unter den Bewohnern Ushgulis stehen funktionell stabilisierende Konstrukte der moralischen Ushguli-Gemeinschaft, des Swanentums und traditioneller Rechtsvorschriften (s. o.) zur Disposition in Konfrontation mit ungeklärten Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Modernität und Tradition (intergenerationelle Konflikte, Konflikte zwischen permanenten Residenten, permanenten Rückkehrern und zeitweisen Rückkehrern, Konflikte aus Konfrontation mit Wert- und Weltvorstellungen der Gäste). Bisherige Gespräche in Vorerhebungen deuten darauf hin, dass vor allem den ständigen Bewohnern und den permanenten Rückkehrern das „Gespür für ihre Lebensweise“ verloren zu gehen scheint (vgl. hierzu Taylor 2009, 44; Greene 2013; zum Konzept der moralischen Landkarten Applis 2018)

Literaturempfehlungen:

Applis, S. (2018). Tourism sustains, and threatens, Georgia’s highland heritage. Tales of an authentic society living at the edge of time fail to account for higher living standards in the Soviet heyday. eurasianet.org. Verfügbar unter: https://eurasianet.org/perspectives-tourism-sustains-and-threatens-georgias-highland-heritage (3.11.2018)

Applis, S. (2018). Gruzija: turizm pomogaet vyzhit‘, no razrushaet tysjacheletnie tradicii Zhiteljam. Svaneti turizm neset odnovremenno progress i ugrozu mnogovekovym obshhinnym skrepam. Verfügbar unter: https://russian.eurasianet.org (6.11.2018)

Applis, S. (2018). Zum Konzept der Moralischen Landkarten und seiner Eignung für geographiedidaktische Theoriebildung und empirische Forschung. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD) 46(2).

Dwelling, M. & Prus, R. (2012). Einführung in die interaktionistische Ethnographie. Soziologie im Außendienst. Springer VS: Berlin.

Greene, J. (2013). Moral Tribes. Emotion, Reason and the Gap between Us and Them. Penguin: New York.

Janiashvili, L. (2012). Traditional Law in Sowjet Times. Caucasus Analytical Digest, 42, 5-7. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-5-7.pdf (21.10.2018)

Taylor, C. (2009). Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt: Suhrkamp.

Voell, S. (2016). Moral Breadown among the Georgian Svans. A Car Accident Mediated between Traditional and State Law. In Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Voell, S. (2012). Local Legal Conceptions in Svan Villages in the Lowlands. Caucasus Analytical Digest, 42, 2-4. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-2-5.pdf (21.10.2018)

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2014). Identity and tradtitional Law Local Legal Conceptions in Svan Villages, Georgia. Anthropological Journal of European Cultures. 23, 2.

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2016). Traditional Law as social Practice and cultural Narrative: Introduction. In: Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Text: © Stefan Applis (2018)

Bilder: © Stefan Applis (2018)

Projektpartner:

Dr. Stéphane Voell (Geschäftsführer des Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg); https://projectgeorgia.wordpress.com/; https://caucasusconflict.wordpress.com/

Dr. Nino Tserediani (Direktorin des Svaneti Museum of History and Ethnography); http://museum.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=50

Mikheil Tsereteli (Deputy General Director of the Georgian National Museum); http://museum.ge/?lang_id=ENGGEO&sec_id=1