Überblick zur Region

Die im Norden Georgiens gelegene Region Swanetien ist eine ethnisch nahezu homogen besiedelte Region, wie dies für einige Gebirgsregionen des Kaukasus typisch ist (Topchishvili 2005). Damit einher geht eine unter den Bewohnern deutlich ausgeprägte Vorstellung einer eigenen Identität, die sich von der der Nachbarn unterscheide (u. a. Janiashvili 2012, Voell 2012). Seit der frühen Sowjetzeit war der Raum Ziel besonderer kulturbezogener Interventionen, wie sie für die Nationalitätenpolitik der Sowjetmoderne typisch waren. So waren der Verwaltungshauptsitz Mestia, das vor der Sowjetisierung Bischofssitz war und die am Ende des Enguri-Tals gelegene Dorfgemeinschaft Uschguli Entwicklungspole bereits im ersten Fünf-Jahres-Plan (1949-1953): Hier wollte das Sowjetregime deutlich machen, dass es möglich war, als rückständig eingestufte Clansysteme zu sowjetisieren und in die Sowjetmoderne zu führen. Ein bekanntes Beispiel für den Sowjetblick auf die Region ist der Film „Salz für Swanetien“ (1930) von Michail Kalatosow, in dem die rückständige Gesellschaft Swanetiens durch den von sowjetischen Pionieren durchgeführten Bau der Straße von Mestia nach Uschguli aus ihrer mittelalterlichen Welt befreit wird. Die für die Identität der Bewohner wichtigen Türme wurden in der Sowjetzeit in großer Zahl eingerissen, um aus dem Steinmaterial Schulen und Kolchosgebäude zu bauen (Applis 2021a); durch die Transformation des gebauten Raumes wurde so die angestrebte Transformation hin zum Sowjetmenschen markiert.

Am Ende blieb Swanetien allerdings auch ein Beispiel für die Grenzen sowjetischer Kulturpolitik, da es nicht gelang lokale Rechtskonzepte und Rechtsinstitutionen aufzulösen (u. a. Ältestenräte, Einsatz von Vermittlern bei Eheanbahnung und Fragen der Verteilung von Grundbesitz, auch Quasi-Legalisierung von Vermittlungspraktiken bei Brautraub und Abwendung von Blutrache, vgl. Voell, Jalabadze, Janiashvili & Kamm 2014; Voell 2012, Janiashvili 2012, Köhler 1999). Die patriarchale Organisation des Sozialen in den dortigen Gemeinden blieb bestehen und die Kollektivierung wurde nur oberflächlich durchgeführt.

In Swanetien gab es zu Sowjetzeiten nur einen schwach entwickelten Bergtourismus (Stadelbauer 1983). Dieser konzentrierte sich auf die hohen Gipfel des Großen Kaukasus und zog vor allem sowjetische Sportler an. Ab den 1990er Jahren verlor die Zentralregierung die Kontrolle über die Region an kriminelle Banden, wodurch das Leben der Menschen von zusätzlicher Unsicherheit geprägt war.

Swanetien wird seit etwa fünfzehn Jahren als touristische Marke durch die wechselnden Regierungen Georgiens beworben und seit 2010 mit der Etablierung sicherer Reisebedingungen in der Region zunehmend besucht. Georgien geht internationale Tourismuspartnerschaften ein wie die als Gastgeberland der Internationalen Tourismusmesse in Berlin 2023 (ITB). Ikonographische Turmdarstellungen sind eines der wichtigsten Werbemittel für den georgischen Tourismusverband, zumal das Dorf Tschashaschi in der Dorfgemeinschaft Uschguli aktuell nur einer von drei Orten ist, die in Georgien den Welterbestatus tragen (Stadelbauer 2018). Mit 190.000 Besuchern im Jahr 2019 erreichte Oberswanetien bei ca. 14.500 gemeldeten dauerhaft in der Region lebenden Bewohnern in der Vor-Covid-Phase einen vorläufigen Höhepunkt an internationalem Interesse. Die Bewohner der Region werden mit einer dynamischen Tourismusentwicklung konfrontiert, zu der u. a. die Digitalisierung des Reisens in Form von Online-Buchungen und Kommentaren zu Aufenthalten gehört (Applis 2022a).

Spannungsfelder durch touristische Einflüsse

Dadurch ergeben sich für die Bewohner des Dorfes vielfache Spannungsfelder. Zunächst einmal treten die dort lebenden Familien in einen ökonomischen Konkurrenzkampf um die Touristen, innerhalb dessen sie nur konkurrenzfähig sind, wenn sie sich gegenüber anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft abgrenzen durch Anpassung an die Erwartungen der Gäste (niedrige Preise, Anpassung an Erwartungen an Ursprünglichkeit, Komfort, Essen, zusätzliche Leistungen). Der Tourismus gefährdet also einerseits etablierte Prozesse der Identitätsbildung und Anerkennung unter den Mitgliedern der Ushguli-Gemeinschaft, die sich vielfach gerade durch Gemeinschaftsleistungen über die seit 30 Jahren anhaltende ökonomische Krise hat erhalten können. Andererseits ermöglicht er einen Erhalt oder ein Neu-Beleben der Hofstellen und liefert damit zugleich die ökonomische Voraussetzung für eine weitere Lebensführung in Ushguli.

Darüber hinaus kommt es zu Krisenerfahrungen durch den Anstieg der „Multiplizität von Lebenswelten“ (vgl. Prus 1997, 28) kombiniert mit vielfachen Erfahrungen des Fremden und einer Verunsicherung der Vorstellungen des Eigenen.

Leitende Fragestellungen

  • Welche Netze der Einkommenssicherung liegen vor (Tourismus, Landwirtschaft, Angestelltenverhältnisse – innerfamiliär, intergenerationell – staatliche Leistungen, z. B. Pensionen)?
  • Welche Rolle spielen Migration und inner-/interfamiliäre Wohnortsdiversifizierung bei der Einkommenssicherung?
    Welche Bedeutung kommt traditionellen Rechtsinstanzen zu bei der Regelung von bspw. Weideflächenkonflikten, Zugang zu Transportmitteln, Nutzung von Brachflächen etc.?
  • Welche ökonomischen, sozialen und räumlichen Auswirkungen hat der touristische Einfluss?

Methodisches Vorgehen

Zunächst ging es auf der Ebene der konkreten Objekte im Raum (Gebäude, Nutzgegenstände etc.) um die fotographische, zeichnerische und kartographische Erfassung des Ist-Zustandes des dörflichen Raumes als Abbild vielfacher Transformationen.

wp_Ushguli_Augzeichnungen

Hierbei wurde Bezug genommen auf das Konzept einer Archäologie des Sowjetimperiums durch Schlögel 2017, 21: „Die Welt wird betrachtet und lesbar durch die Geschichte der Dinge, durch die Analyse von Zeichen und Verkehrsformen, Orten und Routinen […].“

Das fotographische Erfassen bezog die Vorstellungen der Dorfbewohner mit ein durch vielfache Rückmeldung über ein Einbringen der Fotografien in ihre Räumlichkeiten & Zeitlichkeiten.

Auf diese Weise konnte ein Zugang eröffnet werden zu deren gemeinschaftsbezogenen, familiengeschichtlichen und individuell-biografischen Narrativen; dies erfolgt über teilnehmende Beobachtung und Befragungen (Mischung aus analytisch im Vorfeld und im fortschreitenden Prozess gewonnenen Leitfragen).

Überblick zum Projektverlauf

  • Besuch der Dorfgemeinschaft Uschguli über drei Jahre hinweg (2016-2018) zu allen Jahreszeiten in insgesamt neun Feldaufenthalten, um touristische und außertouristische Praktiken, materielle Arrangements und relevante Gruppen an Beteiligten (Applis 2019, 267, f.; Applis 2022a, 421) unter teilweiser Teilnehmerschaft rekonstruktiv zu erschließen;
  • Fotografische Dokumentation von Bündeln von Praktiken und materiellen Arrangements in ihren raum-zeitlichen Ausdehnung unter Einbezug der Stakeholder vor Ort unter strenger Orientierung an dem Prinzip der Responsivität, d. h. ausgewählte Fotografien des vorangegangene Forschungsaufenthaltes werden zurück ins Feld gegeben als Grundlage für im Anschluss gewonnene Text- und Bilddaten;
  • Biografisch dichte, nicht leitfadengestützte Interviews, orientiert an materiellen Objekten oder deren fotografischen Repräsentationen nach den Grundsätzen der Interviewführung bei Einsatz der dokumentarischen Methode, um für die konflikthaften Refigurationen relevanten Bündel von Praktiken und materiellen Arrangements in ihren raum-zeitlichen Ausdehnung zu identifizieren;
  • Theoretische Verdichtung der Ergebnisse und Formulierung weiterführender konkreter Forschungsfragen unter Einbezug relevanter Literatur zur Untersuchungsregion;
  • Entwickeln eines auf den Ergebnissen der Forschung basierenden Reiseführers (Applis 2021b) und eines Bildbandes (Applis 2022c) unter Einbezug der Beteiligten vor Ort mit dem Ziel einerseits komplexe Raumzugänge für Tourist*innen bereitzustellen und andererseits die äußere Transformationsprozesse und kulturreflexiven Prozesse zwischen den Beteiligten und dem Forscher zu dokumentieren (Prinzip der Responsivität, vgl. Schwandt 1997, 2002).

Konfliktlinien

Unter den Bewohnern Ushgulis stehen funktionell stabilisierende Konstrukte der moralischen Ushguli-Gemeinschaft, des Swanentums und traditioneller Rechtsvorschriften (s. o.) zur Disposition in Konfrontation mit ungeklärten Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Modernität und Tradition (intergenerationelle Konflikte, Konflikte zwischen permanenten Residenten, permanenten Rückkehrern und zeitweisen Rückkehrern, Konflikte aus Konfrontation mit Wert- und Weltvorstellungen der Gäste). Die Erhebungen zeigten u. a., dass vor allem den ständigen Bewohnern und den permanenten Rückkehrern das „Gespür für ihre Lebensweise“ verloren zu gehen scheint (vgl. hierzu Taylor 2009, 44; Greene 2013)

Literaturempfehlungen:

Applis, S. (2022a). Crises around Concepts of Hospitality in the Mountainous Region of Svaneti in the North of Georgia. Tourism and Hospitality 2022, 3, 416–434. https://doi.org/10.3390/tourhosp3020027

Applis, S. (2022b). Tourismus-Boom in Georgien. Zur Kapitalisierung des kulturellen Erbes am Beispiel der Bergregionen Swanetien und Tuschetien. Geographische Rundschau (GR) 10/2022.

Applis, S. (2022c). Swanetien zwischen Tradition und Moderne. Bildband. Mitteldeutscher Verlag: Halle. https://mitteldeutscherverlag.de/reisen/alle-titel-reisen/applis,-stefan-swanetien-tradition-und-moderne-detail

Applis, S. (2021a). World Heritage Tourism and the Built Space of Svaneti, Georgia. Peripheral Histories, 18 January 2021. https://www.peripheralhistories.co.uk/post/world-heritage-tourism-and-the-built-space-of-svaneti-georgia

Applis, S. (2021b). Swanetien entdecken. Ein Kultur- und Naturreiseführer für Georgien. Mitteldeutscher Verlag: Halle. https://mitteldeutscherverlag.de/reisen/alle-titel-reisen/applis,-stefan-swanetien-entdecken-detail

Applis, S. (2020). The Threats to Georgia’s World Heritage Sites. Should Locals Be Expected to Forgo Modernity to Satisfy the Demands of UNESCO and the Global Tourism Industry? Eurasianet, 14 August 2020. https://eurasianet.org/perspectives-the-threats-to-georgias-world-heritage-sites

Applis, S. (2019). On the influence of mountain and heritage tourism in Georgia: The exemplary case of Ushguli. Erdkunde 2019, 73, 259–275. https://www.erdkunde.uni-bonn.de/archive/2019/on-the-influence-of-mountain-and-heritage-tourism-in-georgia-the-exemplary-case-of-ushguli

Applis, S. (2018). Tourism Sustains, and Threatens, Georgia’s Highland Heritage. Tales of an Authentic Society Living at the Edge of Time Fail to Account for Higher Living Standards in the Soviet Heyday. Eurasianet, 2 November 2018. https://eurasianet.org/perspectives-tourism-sustains-and-threatens-georgias-highland-heritage

Dwelling, M. & Prus, R. (2012). Einführung in die interaktionistische Ethnographie. Soziologie im Außendienst. Springer VS: Berlin.

Greene, J. (2013). Moral Tribes. Emotion, Reason and the Gap between Us and Them. Penguin: New York.

Janiashvili, L. (2012). Traditional Law in Sowjet Times. Caucasus Analytical Digest, 42, 5-7. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-5-7.pdf (21.10.2018)

Taylor, C. (2009). Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt: Suhrkamp.

Voell, S. (2016). Moral Breadown among the Georgian Svans. A Car Accident Mediated between Traditional and State Law. In Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Voell, S. (2012). Local Legal Conceptions in Svan Villages in the Lowlands. Caucasus Analytical Digest, 42, 2-4. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-2-5.pdf (21.10.2018)

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2014). Identity and tradtitional Law Local Legal Conceptions in Svan Villages, Georgia. Anthropological Journal of European Cultures. 23, 2.

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2016). Traditional Law as social Practice and cultural Narrative: Introduction. In: Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Text: © Stefan Applis (2018)

Bilder: © Stefan Applis (2018)

Projektpartner:

Dr. Stéphane Voell (Geschäftsführer des Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg); https://projectgeorgia.wordpress.com/; https://caucasusconflict.wordpress.com/

Dr. Nino Tserediani (Direktorin des Svaneti Museum of History and Ethnography); http://museum.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=50

Mikheil Tsereteli (Deputy General Director of the Georgian National Museum); http://museum.ge/?lang_id=ENGGEO&sec_id=1