In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ist Ober-Swanetien seit 1990 eine in besonderem Maße von Krisen geschüttelte Region: Grundsätzlich wegen der Begrenztheit Ihrer landwirtschaftlichen und sonstigen ökonomischen Möglichkeiten als Gebirgs- und Grenzertragsregion; weiterhin durch die Entfernung von den politischen und wirtschaftlichen Zentren und zudem durch die erst seit den letzten Jahren der Sakaschwili-Regierung (2004-2013) durchgesetzte äußere Sicherheit in Ober-Swanetien. Die Gebirgsregion war seit den 1990er Jahren fest in der Hand mafia-artig organisierter Familienclans (Fahrzeug-, Waffen- und Menschenschmuggel, Verunsicherung der lokalen Bevölkerung durch Entführung, Erpressung und Mord, vgl. zeitgleiche kriegerische Auseinandersetzung in den nördlich gelegenen russländischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien – Ober-Swanetien galt hier als quasi rechtsfreier Durchgangsraum).

Andererseits bieten sich seit einigen Jahren auf Grund starker touristischer Potentiale und Nachfrage Entwicklungsmöglichkeiten und Aussichten für aus Ober-Swanetien stammende oder in Ober-Swanetien noch dauerhaft lebenden Familien, die für Georgien noch immer stark verbreitete Armut zu überwinden oder zumindest einen gewissen Grad an ökonomischer und damit sozialer Sicherheit zu erreichen (vgl. Caucasus Barometer 2017, Echanove 2016, Gugushvili 2011, Pearce 2011). Denn die sechsmonatige touristische Sommerbewirtschaftung und der in Grenzen mögliche Zugang zum winterlichen Skitourismus ermöglichen für viele Familien zumindest eine zeitweise Rücksiedelung einiger Familienmitglieder in das lokale Verwaltungszentrum Mestia (1000m Höhe, Einwohner) oder in höher gelegene Dörfer.

Ushguli (2200 m Höhe) ist wegen seiner Gebirgsregionslage und den 44 km Entfernung zum Verwaltungszentrum Mestia (1500m Höhe) zunächst ein klassischer Ort der Landflucht. Seit den 1980ern war die aus den vier Ortsteilen Murqmeli, Chazhashi, Tschwibiani und Schibiani bestehende, in der Enguri-Schlucht gelegene Dorfgemeinschaftvon von starker Abwanderung betroffen. Dies lag vor allem an einer Reihe von Extremwettererlagen mit Schneestürmen und Lawinen, in deren Folge insgesamt 82 Tote in der Region zu beklagen waren. Diese Abwanderung erfolgte innerhalb staatlicher Umsiedelungsmaßnahmen.

Heute leben, eigenen Erhebungen zufolge, dauerhaft etwa 150 Personen in Ushguli; in den Sommermonaten steigt diese Zahl um bis zu 150 Personen. Diese können in folgende Gruppen untergliedert werden: permanente Bewohner, die auch seit den Krisen der 1980er und der folgenden Jahre geblieben waren, permanente Rückkehrer, die als Antwort auf die wirtschaftlichen Krisen seit den späten 1990er Jahren zunächst mit dem Ziel der Selbstversorgung und dann mit der Aussicht auf dauerhafte Existenzsicherung durch das Angebot touristischer Leistungen seit etwa 2010 zurückgekehrt sind und zeitweise Rückkehrer, die nur im Sommerhalbjahr in Ushguli leben und die zurückgelassenen Grundstücke touristisch in Wert setzen durch Umbau der Hofstätten zu Gästehäusern.

 

Das besondere touristische Interesse an Ushguli gilt seinen Wehrtürmen, die seit 1996 Teil des UNESCO-Welterbes sind. Außerdem liegt zwölf Kilometer nördlich in der Verlängerung der Schlucht der Berg Schchara, der zweithöchste Gipfel des Großen Kaukasus und höchste Berg Georgiens. Schon in der Sowjetzeit, insbesondere in den 1970er Jahren war Ushguli ein häufiges Ziel von grenzüberschreitendem Wander-, Bergsteiger- und Tourenskitourismus, weswegen die Dorfbewohner durchaus über grundständige Erfahrung im Umgang mit Touristen und deren Bedürfnissen verfügen. So werden Bergführer- und Pferdeführerdienste angeboten, zudem Unterkunft und Mahlzeiten; die meisten Touristen kommen allerdings als Tagesbesucher von Mestia mit geländegängigen Fahrzeugen nach Ushguli.

Durch den seit Ende der 2000er Jahre starken Anstieg eines Individualtourismus, der seine Ziele über digitale Austauschplattformen sucht und findet, ist das abgelegene Ushguli über ein dauerhaftes Transportangebot mit geländegängigen Fahrzeugen durch internationalen Tourismus durchaus erreichbar geworden und vor allem in den drei Sommermonaten Juni, Juli und August stark frequentiert.

 

Auf Plattformen wie „wikitravel“, „tripadvisor“, „facebook“ und „booking.com“ dominieren Erzählungen einer ursprünglichen, am Rande der Zeit existierenden Gesellschaft, in der sich kaum etwas verändert habe und in der das Leben noch märchenhafte Züge trage. Diese Sicht auf Ushguli wird durchaus auch in anspruchsvoller Reiseliteratur gestützt (vgl. Anderson 2004, Nasmyth 2017). Dieses Narrativ hat allerdings enge Grenzen und wenig gemein mit einem Leben, das sich in vielen Fällen an der Armutsgrenze bewegt, einem Abgeschnittensein von medizinischer Versorgung und politischer Teilhabe und geringen Zukunftsperspektiven. Zudem spart es die hohen Lebensstandards in der Blütezeit der Sowjetunion aus, in der Ushguli durch tägliche Hubschrauberflüge an Tbilisi angeschlossen war und im Ort eine höhere Schulbildung erworben werden konnte, die eine hohe Zahl der heute älteren Bewohner Usghulis zu Hochschulabschlüssen führte.

In Ushguli bietet der Tourismus letztlich die einzige Möglichkeit, ein Haushaltseinkommen zu erzielen, mit dem sich eine mehrköpfige Familie versorgen lässt. Wie andernorts in Georgien bleiben Familien aus Ober-Swanetien als Wirtschaftsgemeinschaft, die über mehrere Orte in Georgien verteilt lebt, unabdingbar miteinander verbunden. Da die Preise für Fleisch, Wolle und Milchprodukte in Folge der hohen Bedeutung der Subsistenzlandwirtschaft in Georgien überaus niedrig sind, lohnt deren Verkauf oft nicht. Dennoch sind die erzeugten Produkte für die Familien unerlässlich, da ihnen sonst das Geld für das Bestreiten anderer Grundbedürfnisse fehlt. Möchte eine Familie also ihre Hofstelle erhalten und zudem das Familieneinkommen nicht durch den Kauf von Lebensmitteln belasten, muss sie Touristen als Gäste bekommen oder in solch prekären Verhältnissen leben, dass z. B. eine Versorgung im Krankheitsfall nicht finanzierbar oder eine weiterführende Schulbildung für die Kinder ausgeschlossen ist.

So ergeben sich für die Bewohner des Dorfes vielfache Spannungsfelder.

Zunächst einmal treten die dort lebenden Familien in einen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf um die Touristen, innerhalb dessen sie nur konkurrenzfähig sind, wenn sie sich gegenüber anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft abgrenzen durch Anpassung an die Erwartungen der Gäste (niedrige Preise, Anpassung an Erwartungen an Ursprünglichkeit, Komfort, Essen, zusätzliche Leistungen). Der Tourismus gefährdet also einerseits etablierte Prozesse der Identitätsbildung und Anerkennung unter den Mitgliedern der Ushguli-Gemeinschaft, die sich gerade durch Gemeinschaftsleistungen über die nunmehr seit 30 Jahren anhaltende wirtschaftliche Krise hat erhalten können. Andererseits ermöglicht er einen Erhalt oder ein Neu-Beleben der Hofstellen und liefert damit zugleich die wirtschaftliche Voraussetzung für eine weitere Lebensführung in Ushguli.

 

Darüber hinaus kommt es zu Krisen durch vielfache Erfahrungen des Fremden in der Begegnung mit den Besuchern und einer Verunsicherung der eigenen Vorstellungen: Unter den Bewohnern Ushgulis stehen funktionell stabilisierende Konstrukte der moralischen Ushguli-Gemeinschaft, des Swanentums und traditioneller Rechtsvorschriften (s. o.) zur Disposition in Konfrontation mit ungeklärten Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Modernität und Tradition (intergenerationelle Konflikte, Konflikte zwischen permanenten Residenten, permanenten Rückkehrern und zeitweisen Rückkehrern, Konflikte aus Konfrontation mit Wert- und Weltvorstellungen der Gäste). Bisherige Gespräche aus den Vorerhebungen deuten darauf hin, dass vor allem den ständigen Bewohnern und den permanenten Rückkehrern das „Gespür für ihre Lebensweise“ verloren zu gehen scheint (vgl. hierzu Taylor 2009, 44; Greene 2013; zum Konzept der moralischen Landkarten Applis 2018)

 

Auf der Ebene der konkreten Objekte im Raum führt das vielfache Krisenerleben zu einer starken Überformung des Dorfes, welche sich im Verfallen der Wehrtürme, in nicht denkmalgerechten Anbauten und in Neubauten manifestiert und auf Dauer die Einstufung als Weltkulturerbe gefährden wird.

Text: © Stefan Applis (2018)

Bilder: © Stefan Applis (2018, 2017)

Literaturempfehlungen:

Applis, S. (2018). Tourism sustains, and threatens, Georgia’s highland heritage. Tales of an authentic society living at the edge of time fail to account for higher living standards in the Soviet heyday. eurasianet.org. Verfügbar unter: https://eurasianet.org/perspectives-tourism-sustains-and-threatens-georgias-highland-heritage (3.11.2018)

Applis, S. (2018). Gruzija: turizm pomogaet vyzhit‘, no razrushaet tysjacheletnie tradicii Zhiteljam. Svaneti turizm neset odnovremenno progress i ugrozu mnogovekovym obshhinnym skrepam. Verfügbar unter: https://russian.eurasianet.org (6.11.2018)

Anderson, T. (2004). Bread and Ashes. A Walk through the Mountains of Georgia. Vintage Random House : London.

Applis, S. (2018). Zum Konzept der Moralischen Landkarten und seiner Eignung für geographiedidaktische Theoriebildung und empirische Forschung. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD) 46(2).

Caucasus Research Resource Centers 2017. Caucasus Barometer. Tbilisi.  Verfügbar unter: http://www.crrccenters.org/caucasusbarometer (7.10.2018)

Echanove, J. (2016). The Feasibility of Adverting Collapse: the Resurgence of Georgia’s Agricultural Sector. Caucasus Analytical Digest, 88, 2-4. verfügbar unter: http://www.laender-analysen.de/cad/pdf/CaucasusAnalyticalDigest88.pdf (7.10.2018)

Gugushvili, A. (2011). Understanding Poverty in Georgia. Caucasus Analytical Digest, 34, 16-18. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-34.pdf (7.10.2018)

Halbach, U. (2016). Religion und Nation, Kirche und Staat im Südkaukasus. (=SWP- Studie 18, Stiftung Wissenschaft und Politik). Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit: Berlin. Verfügbar unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2016S18_hlb.pdf (9.10.2018)

Janiashvili, L. (2012). Traditional Law in Sowjet Times. Caucasus Analytical Digest, 42, 5-7. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-5-7.pdf (7.10.2018)

Nasmyth, P. (52017). Georgia. In the Mountains of Poetry. London: Duckworth Overlook.

Pearce, K. E. (2011). Poverty in the South Caucasus. Caucasus Analytical Digest, 42, 1-10. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-5-7.pdf (7.10.2018)

Rosa, H. (2016). Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Schlögel, K. (2017). Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. C.H. Beck: München.

Taylor, C. (2009). Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt: Suhrkamp.

Voell, S. (2016). Moral Breakdown among the Georgian Svans. A Car Accident Mediated between Traditional and State Law. In Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Voell, S. (2012). Local Legal Conceptions in Svan Villages in the Lowlands. Caucasus Analytical Digest, 42, 2-4. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-2-5.pdf (7.10.2018)