Die Dorfgemeinschaft Ushguli liegt im Norden Georgiens in Oberswanetien und wurde 1996 mit dem Ortsteil Chazhashi zum UNESCO-Welterbe erklärt. Seit etwa 2010 nimmt der Tourismus in der Bergregion stetig zu. Die Einheimischen sind aber nur begrenzt vorbereitet auf den Umgang mit typischen touristischen Interessen. Die meisten Angebote sind wegen der begrenzten finanziellen Ressourcen vor Ort nach wie vor improvisiert, was zugleich den besonderen Charme eines Aufenthalts in der Bergregion ausmacht. Entsprechend ungeordnet treffen hier allerdings auch einander oft in weiten Bereichen entgegengesetzte Interessen von Dorfbewohnern und Touristen aufeinander – auch wenn die wirtschaftlichen Interessen der Dorfbewohner den touristischen Zustrom fortschreitend beschleunigen. Vor allem ist davon das architektonische Erbe betroffen, das einen bedeutenden Teil der Vorstellung der Menschen davon ausmacht, wer sie sind.

Die im Norden gelegene Region Oberswanetien oder Hochswanetien nimmt in mancherlei Hinsicht eine Sonderstellung innerhalb Georgiens ein, die sie auch in der Zeit der Sowjetunion hatte. Zum einen galt und gilt dieser Raum als eine ethnisch weitgehend homogen besiedelte Region, wie dies für einige Gebirgsregionen des Kaukasus typisch ist. Eine Rolle spielen hier sicherlich die harten Bedingungen einer Grenzlandwirtschaft auf 1500–2500 m Höhe, die mit der Notwendigkeit verbunden sind, dass die Lebenswelt der Bewohner stark auf Vergemeinschaftung hin ausgerichtet ist. Damit einher geht eine unter den Bewohnern deutlich ausgeprägte Vorstellung einer eigenen Identität, die sich von der der Nachbarn unterscheide (u. a. Janiashvili 2012, Voell 2012).

Bereits seit der frühen Sowjetzeit war der Raum Ziel besonderer kulturbezogener Maßnahmen von Seiten Moskaus, wie sie für die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion typisch waren: Zum einen sollte das ethnische Bewusstsein durch eine Anerkennung der je eigenen Kultur gestärkt werden, zum anderen wurde jeder Anspruch auf eine politische Umsetzung des Nationalen bekämpft. Stattdessen sollte die ethnische Identität der Identität als Sowjetmensch untergeordnet werden (vgl. Schlögel 2017, Houben 2003). Ober-Swanetien blieb zugleich aber ein Beispiel für die Grenzen kultureller Transformationsmaßnahmen, da es der Zentralregierung nicht gelang lokale Rechtskonzepte und Rechtsinstitutionen aufzulösen (u. a. Ältestenräte, Einsatz von Vermittlern bei Eheanbahnung und Fragen der Verteilung von Grundbesitz, auch Quasi-Legalisierung von Vermittlungspraktiken bei Brautraub und Abwendung von Blutrache), so dass diese schließlich innerhalb des Sowjetrechts eine Teil-Kodifizierung erhielten – so waren zuvorderst Schwerverbrechen und Verbrechen gegen Ansprüche und Rechte des Proletariats der Sowjetgerichtsbarkeit unterworfen.

Aktuelle Untersuchungen zeigen bis heute zum einen eine hohe Akzeptanz für traditionelle Rechtsvorstellungen (vgl. Voell, Jalabadze, Janiashvili & Kamm 2014; Voell 2012) und zum anderen unter nicht-swanischen Georgiern eine weitverbreitete Vorstellung, dass unter den „Bergvölkern“ ein unverstellter Kern eines national-ethnischen Georgiertums erhalten geblieben sei: Dieses wird zudem als untrennbar verbunden mit dem georgisch-orthodoxen Christentum gesehen (vgl. Voell, Jalabadze, Janiashvili & Kamm 2016; Halbach 2016; Janiashvili 2012).

„Zu Beginn der Sowjetzeit”, erklärt Teimuraz Nidzaradze, Agronom und ehemaliger Leiter der Kolchose, „waren alle begeistert von der Idee, dass alle gleich wären.“ Auch er sei zunächst ein überzeugter Kommunist gewesen, berichtet er. Am Anfang hätten auch alle zusammen gearbeitet, bald aber hätte jeder wieder nur auf sich selbst gesehen. Auch sein Bruder Fridon glaubte an die kommunistische Idee. In den 70er Jahren gehörte er einer Studentengruppe an, die offen den Stalinismus kritisierte. Zudem wurden seine Bilder während des Studiums an der Akademie in Tbilisi nicht anerkannt, weil er sich weigerte, im Stil des sozialistischen Realismus zu malen. Viele aus der Gruppe wurden eingesperrt unter unmenschlichen Bedingungen. Fridon kehrte nach Ushguli zurück und hat es seitdem nicht mehr verlassen. „Ich glaube“, ergänzt Teimuraz, „wir Swanen sind nicht dazu geschaffen gemeinschaftlich zu arbeiten. Ein jeder hier sieht eben nur auf seine Familie und nicht auf die, mit denen er nicht verwandt ist.“

Das besondere touristische Interesse an Ushguli gilt seinen Wehrtürmen, die seit 1996 Teil des UNESCO-Welterbes sind. Außerdem liegt zwölf Kilometer nördlich in der Verlängerung der Schlucht der Berg Schchara, der zweithöchste Gipfel des Großen Kaukasus und höchste Berg Georgiens. Schon in der Sowjetzeit, insbesondere in den 1970er Jahren war Ushguli ein häufiges Ziel von grenzüberschreitendem Wander-, Bergsteiger- und Tourenskitourismus, weswegen die Dorfbewohner durchaus über grundständige Erfahrung im Umgang mit Touristen und deren Bedürfnissen verfügen. So werden Bergführer- und Pferdeführerdienste angeboten, zudem Unterkunft und Mahlzeiten; die meisten Touristen kommen allerdings als Tagesbesucher von Mestia mit geländegängigen Fahrzeugen nach Ushguli.

Usghuli werde verschwinden ohne dauerhafte Bewohner, meint Samir Ratiani mit Blick auf die Entwicklung, dass über die Hälfte der ursprünglichen Bewohner nur noch im Sommer in Ushguli lebt, wenn die Touristen kommen. „Ushguli als Gemeinschaft von Menschen, die in Ushguli leben!“, bekräftigt er. Man müsse wissen, was es heiße, hier zu leben, müsse all die Arbeiten machen können, die nötig sind, um im Winter zu überleben. Die Jungen könnten das nicht mehr. „Ohne den Ort, von dem man stammt, ohne seine Tradition ist man nichts. Die, die weggegangen sind, gehören eigentlich nicht mehr richtig zu Ushguli.“ Und vom Staat komme keine Hilfe. Die aber bräuchten sie, um die alten Gebäude zu erhalten. Ein jeder baue vor sich hin, verändere das Alte ohne Plan und Vorgaben. So werde Ushguli irgendwann verschwinden.

Neben den dominierenden Erzählungen über Swanetien, die oft politisch oder ethnisch motiviert sind oder touristisch-ökonomischen Interessen folgen, sollte dem, was der Historiker Karl Schlögel als „sowjetische Zivilisation“ (Schlögel 2017, 20) bezeichnet hat, besondere Aufmerksamkeit zukommen. Denn „Lebenswelten können älter und stabiler sein als politische Ordnungen, und sie können fortleben, wenn das Ende eines Systems schon […] protokolliert ist. Sie hinterlassen Spuren noch weit über ihr Ende hinaus […] [in] Sprachen, […][dem] Stil von Verwaltungs- und Schulgebäuden, Infrastruktur, […] übernomme[n] Umgangsformen, Bildungswegen[n] und Biografien […] physisch reell und auf den mentalen Karten der Bewohner der nun postimperialen Welt, wenn das Staatswesen UdSSR schon vergessen ist.“ (Schlögel 2017, ebd.)

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Auch in dieser Hinsicht ist Ushguli ein besonderer Ort: Mikhail Konstantinovich Kalatozov (1903-1973), der georgisch-sowjetische Filmregisseur drehte hier seinen dritten propagandistisch-ethnographischen Dokumentarfilm „Salt for Svanetia“ (1930). Außerdem findet sich in Ushguli an vielen Orten die Objektwelt propagandistischer Sowjetsymbole wie roter Stern oder Hammer und Sichel. Dies begann 1939 mit dem ersten modernen Gebäude und setzte sich in vielfachen Variationen in Balkonverzierungen und Schnitzereien fort. Gehört aber auch diese Vergangenheit zum kulturellen Erbe oder nur die Zeit davor?

Saur erzählt begeistert von der Leistung des Vaters, alles Baumaterial für dieses Haus mit drei Fuhren Stiergespannen allein nach Ushguli gebracht zu haben.

Der 73jährige ehemalige Sportlehrer der örtlichen Schule hat mit Unterbrechung von drei Jahren Militärzeit in Odessa und seiner Studienzeit am Sportinstitut von Tbilisi sein ganzes Leben in Ushguli verbracht. Sein Gästehaus ist zugleich so etwas wie ein zeitgeschichtliches Museum, denn es erzählt von allen nationalen und internationalen Gästen, die in der Sowjetzeit Ushguli besuchten. Auch das Filmteam des berühmten georgischen Bergsteigers Mikheil Khegiani, dessen Geburtshaus in Mestia heute ein Museum ist, habe immer bei ihnen übernachtet.

Ob es den Jungen heute besser gehe als der älteren Generation? Das sei schwer zu entscheiden, antwortet Saur. Die Jungen hätten die schlimmen Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht bewusst erlebt, allerdings auch nicht die Zeiten, in denen es ihnen allen am besten gegangen war. Immerhin hätten früher alle aus Ushguli, die studiert hatten, auch in ihrem Beruf arbeiten können. Das Leben in Ushguli ist immer hart gewesen – die Jungen kennen dieses Leben nicht mehr. Sie studieren zwar auch, aber für sie gibt es im heutigen Georgien keine Arbeit. So kommen die meisten nur im Sommer wegen der Touristen nach Ushguli – ohne die Touristen wäre alles noch schlimmer.

In jedem Falle findet sich in Ushguli eine Fülle an Menschen mit typischen Sowjetbiografien, die eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach Anerkennung ihrer Lebensleistung zum Ausdruck bringen.

Text: © Stefan Applis (2018)

Bilder: © Stefan Applis (2018, 2017, 2015)

Literaturhinweise

Applis, S. (2018). Tourism sustains, and threatens, Georgia’s highland heritage. Tales of an authentic society living at the edge of time fail to account for higher living standards in the Soviet heyday. eurasianet.org. Verfügbar unter: https://eurasianet.org/perspectives-tourism-sustains-and-threatens-georgias-highland-heritage (3.11.2018)

Applis, S. (2018). Gruzija: turizm pomogaet vyzhit‘, no razrushaet tysjacheletnie tradicii Zhiteljam. Svaneti turizm neset odnovremenno progress i ugrozu mnogovekovym obshhinnym skrepam. Verfügbar unter: https://russian.eurasianet.org (6.11.2018)

Janiashvili, L. (2012). Traditional Law in Sowjet Times. Caucasus Analytical Digest, 42, 5-7. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-5-7.pdf (22.10.2018)

Schlögel, K. (2017). Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. C.H. Beck: München.

Voell, S. (2016). Moral Breakdown among the Georgian Svans. A Car Accident Mediated between Traditional and State Law. In Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.

Voell, S. (2012). Local Legal Conceptions in Svan Villages in the Lowlands. Caucasus Analytical Digest, 42, 2-4. Abrufbar unter: http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-42-2-5.pdf (22.10.2018)

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2014). Identity and tradtitional Law Local Legal Conceptions in Svan Villages, Georgia. Anthropological Journal of European Cultures. 23, 2.

Voell, S., Jalabadze,N., Janiashvili, L. & Kamm, E. (2016). Traditional Law as social Practice and cultural Narrative: Introduction. In: Stephane Voell (Ed.). Traditional Law in the Caucasus: Local Legal Practices in the Georgian Lowlands. Curupira: Marburg.