Materielles und immaterielles kulturelles Erbe
Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der touristischen Marke Georgien sind das immaterielle Weltkulturerbe des Landes wie der georgische polyphone Gesang (2011) und das materielle Weltkulturerbe, wie die historischen Kirchen von Mzcheta (1994), die Klosteranlage Gelati (2017) und das Dorf Tschashaschi aus der Dorfgemeinschaft Uschguli in der Bergregion Oberswanetien (1996). Vierzehn weitere historische Stätten stehen auf der Warteliste für die UNESCO. 2021 wurden die Kolchischen Regenwälder und Feuchtgebiete zum Weltnaturerbe erklärt, im Juni 2022 folgte die Bergregion Tuschetien als UNESCO-Biosphärenreservat. In Georgien sind verschiedene Institutionen mit dem Erhalt und der Verwaltung des kulturellen Erbes betraut, deren Zuständigkeiten für Außenstehende nicht immer klar nachvollziehbar sind. Sicher ist aber, dass das wirtschaftliche Primat der Tourismusentwicklung in vielen Fällen wenig nachhaltigen Strategien folgt, weshalb z. B. die Bagrati-Kathedrale in Kutaissi 2017 den Welterbestatus verlor und das International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) im November 2024 den Welterbestatus von Oberswanetien als gefährdet einstufte.
Der vorliegende Text setzt sich aus Ausschnitten aus den entsprechend Publikationen beim Mitteldeutschen Verlag Halle zu den Hochgebirgsregeionen Swanetien und Tuschetien in Georgien zusammen.
Die Publikationen wurden ausgezeichnet mit dem "Destination-Award 2023" der Internationalen Tourismusmesse in Berlin und dem "International Travel BookAward 2025"
Oberswanetien – Top-Ziel des internationalen Tourismus
Das im Nordwesten Georgiens gelegene Swanetien ist bekannt für die mittelalterliche Architektur seiner Dörfer. Auch während der Zeit der Sowjetunion erhielten sich die Dorfgemeinschaften in Teilen ihr traditionelles Rechtssystem. In den Krisenjahren der 1990er-Jahre war die Region de facto abgekapselt und der Staat verlor zeitweise die Kontrolle über Swanetien. Sicherheit boten damals und heute, ebenso wie anderswo in Georgien, der Rückzug auf die eigenen Landflächen, auf denen in Handarbeit Landwirtschaft zur Selbstversorgung betrieben wird.
Vor dem Hintergrund der durch den Staat initiierten Wirtschaftsliberalisierung bei gleichzeitigem Rückzug aus der Sozialversorgung blieb den Bewohnern gewissermaßen nichts anderes übrig, als zu touristischen Kleinunternehmern zu werden, sobald Swanetien seit etwa 2010 für den Tourismus geöffnet wurde. Tatsächlich kam es durch die zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten zu einer Revitalisierung der Dörfer. Die Folge war allerdings auch ein völlig ungeregeltes Bauen, zumal der Staat keinerlei Unterstützung beim Erhalt des kulturellen Erbes bot (Applis 2020).





Nach nur wenigen Jahren touristischer Entwicklung stand die Region mit 190 000 Besuchern im Jahr (2019) vor enormen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen. Der Status Swanetiens als Weltkulturerbe hängt letztlich vom baulichen Zustand nur eines Dorfes und dem Erhalt der es umgebenden bergbäuerlichen Kulturlandschaft ab. Letztere aber verändert sich ebenfalls, da mit dem zunehmenden Tourismus die Zahl der ganzjährigen Bewohner zurückgeht.
Ein Beispiel – Kulturraumwandel durch Auftreten von Brüchen zwischen traditionellen und modernen Rollenbildern
Das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne ist in Swanetien ebenso angespannt wie in vielen anderen Regionen der Welt. Einerseits hat Swanetien intensive Modernisierungsphasen durchlaufen, die mit der Sowjetzeit begannen und die Region in Bezug auf Landwirtschaft und Architektur grundlegend umstrukturierten. Dies hatte auch erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis der Geschlechterrollen, da die Familien gezwungen wurden, den Frauen Zugang zu Bildung zu eröffnen. Infolgedessen gibt es heute in der Region eine große Zahl hochqualifizierter Frauen. Allerdings ist die Arbeitslosigkeit hoch, insbesondere in Berufen mit Hochschulabschluss.
Auf der anderen Seite ist das Leben in den Dörfern noch stark von traditionellen Vorstellungen geprägt. Das liegt vor allem daran, dass fast alle Swanen Landwirtschaft in Handarbeit verrichten müssen, um sich selbst zu versorgen. Der Grad der Mechanisierung in der Landwirtschaft ist gering. Wo zu Sowjetzeiten landwirtschaftliche Maschinen eingesetzt wurden, stehen sie heute mangels Reparaturmöglichkeiten meist ungenutzt herum. Wie überall auf der Welt werden die zeitaufwändigeren, kleineren Arbeiten im Garten und im Haushalt von den Frauen erledigt, während die Männer die körperlich anstrengenderen Arbeiten im Wald und auf den Feldern verrichten.
Zu den Modernisierungsangeboten in der Landwirtschaft gehörte in den letzten Jahren vor allem der Vorschlag zur Bildung von Genossenschaften. Der georgische Staat ist jedoch nach wie vor nicht in der Lage, die Menschen aus der landwirtschaftlichen Selbstversorgung zu entlassen. Das Vertrauen in staatliche Angebote ist in Swanetien generell gering. Diejenigen, die wenig besitzen, versuchen zumindest, das in Ordnung zu halten und sich auf sich selbst zu konzentrieren.
Auch in Swanetien wurde der Boden seit 1993 aus landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften wie Kolchose oder Sowchose zunächst nach dem Prinzip der Belegschaftsprivatisierung aufgeteilt, d.h. jedes Belegschaftsmitglied erhielt gleich viel Bodenanteil. Mit Beginn der staatlichen Desintegration als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion waren aber schon große Flächen über Mediatorengerichte und sogenannte professionelle „Erinnerer“ unter den Familien, die ihre Ansprüche vor diesen inoffiziellen Gerichten geltend machen konnten, verteilt worden. In Dorfgemeinschaften wie Lenjeri oder Latali erfolgte diese Rückverteilung im Gegensatz zum Verwaltungszentrum Mestia eher konfliktfrei, weil dort weniger Flächenkonkurrenz bestand. Mit der Zunahme der Nachfrage nach Nutzung von Flächen für den Tourismus nehmen Konflikte im Zusammenhang mit nicht geklärten Besitzverhältnissen allerdings zu.
Tuschetien – einer der letzten halbnomadisch bewirtschafteten Räume Europas
Tuschetien ist ein weiteres stark beworbenes Reiseziel in Georgien. Die im nördlichen Kaukasus gelegenen Dörfer Tuschetiens werden nur von wenigen Menschen dauerhaft bewohnt. Die meisten Tuschen verbringen den Großteil des Jahres in Siedlungen aus der Sowjetzeit im Flachland oder als Arbeitsmigranten in Europa und Russland. Nur im Sommer kehren die Familien in ihre Häuser in den Bergen zurück – seit einigen Jahren auch, um im Tourismus tätig zu werden.
Die traditionelle Viehwirtschaft erfolgt nach dem Muster der Transhumanz: Den Winter verbringen die Tiere in den Ställen im Georgischen Tiefland oder auf den fernen Weiden nahe der Grenze zu Aserbaidschan, im Frühling machen sich die Hirten mit den Herden auf zu den fruchtbaren Hochgebirgsweiden (vgl. grundlegend Mühlfried 2014). In den schwer zu erreichenden Dörfern im Hochgebirge sind es ebenfalls die auf den Tourismus hin ausgerichteten Baumaßnahmen und die durch die staatlich vorangetriebene Konkurrenzorientierung, die die lokalen Gemeinschaften in ihren sozialen Gefügen gefährden (Štulcaitė 2019). In Tuschetien allerdings stehen die Chancen um den Erhalt des kulturellen Erbes günstiger als in Swanetien, da mit der Erklärung zum Biosphärenreservat, die von den großen Gemeinden mitgetragen wurde, hohe Ansprüche an nachhaltiges Wirtschaften verbunden sind.





Ein Beispiel – Kulturraumwandel durch Wandel von Wissensregimen
An der Rekonstruktion vieler Lebensläufe von Tuschen, die über 50 Jahre alt sind, wird in den Arbeiten von Lemaitre (2022) ersichtlich, wie sich vieh- und landwirtschaftliche Tätigkeiten und Lebensweisen und die damit verbundene Raumnutzung seit den 1990er Jahren veränderten. Nachdem Georgien seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wandten sich viele Tuschen wegen des Zusammenbruchs der sowjetisch geprägten Wirtschaft und ihrer Institutionen der nach Geschlechter getrennten Wanderweidewirtschaft zur Selbstversorgung und zur Marktproduktion zu, was dazu führte, dass sie wieder ihre Dörfer im Hochgebirge aufsuchten und diese nach und nach wiederherstellten. Obwohl die Rinderwinterlager in Tuschetien zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Winter genutzt wurden, ermöglichten die Wiedereinrichtung der Transhumanz dennoch die Weidehaltung von Rindern, die von Frauen während des Sommers im Gebirge betrieben wurde. Zu dieser Zeit hielt sich also immer eine große Anzahl von Frauen auf den Rinderweiden auf und diese vollzogen die überlieferten rituellen Praktiken, mit denen Frauen ihre Verbindung zu den mit Weiblichkeit verbundenen Heiligtümern pflegen.
Die Tatsache, dass die Frauen die Rinderwirtschaft nun aufgeben, bedeutet zwar noch nicht, dass diese verschwindet: Sie wird nun von Männern übernommen, die der Schafzucht überdrüssig sind, da sie diese ständig auf Distanz zu den Dörfern und den Orten hält, an denen sich das Familienleben abspielt. So besetzen Männer heute die Sommer- und Winterweiden, die bis vor kurzem von den Frauen bewirtschaftet worden waren und die dort ihr Beziehungsnetz zu den weiblichen Orten gepflegt hatten.
Der Verlust an Wissen über weibliche Orte aufgrund der Fokussierung von Frauen auf Dörfer und Häuser im Rahmen der Beherbergung von Touristen kann nach Lemaitre (2025) als Teil einer Dynamik gesehen werden, der durch die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Tourismus verbundenen Rückkehr von Männern zu einer Konzentration der Aufmerksamkeit auf die männliche Sphäre der Beziehung zwischen spirituellen Entitäten, Orten und Menschen führt. Dies bringe eine zeitgenössische Verhärtung des Ausschlusses von Frauen aus dem spirituellen Bereich mit sich, wie die vielen neu aufgestellten Tafeln an heiligen Orten in ganz Tuschetien zeigen, die vor allem Touristinnen von einem Betreten der Räumlichkeiten abhalten sollen. Aus Lemaitres Gesprächen (Lemaitre 2025) geht hervor, dass ältere Menschen, Männer wie Frauen, sich daran erinnern, dass kleine Mädchen und Frauen in den Wechseljahren durchaus alle Khat‘i be-suchen konnten, was zudem durch zahlreiche Geschichten und auch durch Fotografien belegt ist. Bei den jüngeren Tuschen falle hingegen zunehmend eine kategorische Ablehnung im Namen der Tradition auf, wenn es um die Möglichkeit ging, dass Frauen in irgendeiner Form bei den Khat‘i anwesend seien.
Der zunehmende Tourismus in Tuschetien bringt zusammengefasst bestimmte für die Moderne typische Veränderungen der Beziehung zwischen Mensch und Raum an die Oberfläche und wirkt zugleich auch ein Beschleuniger von Entfremdungsprozessen. Dies geschieht insbesondere durch die Entwicklung bestimmter touristisch perspektivierter Konzepte wie dem der archetypischen Landschaft als Schaufläche, mit der Transformation auch der räumlichen Vorstellungen der lokalen Bevölkerung verbunden sind. Der Tourismus wird von den Tuschen einerseits durchaus einhellig als ein Segen betrachtet, der es ihnen ermöglicht, mehr Zeit in ihrer Heimat (samshoblo) zu verbringen und ihre Dörfer zu erhalten. Er ist jedoch auch eine Quelle der Besorgnis und muss nach Ansicht vieler Tuschen kontrolliert oder eingeschränkt werden, was sie deutlich und medienwirksam zum Ausdruck bringen, wenn sich viele gegen den möglichen Bau einer zweiten Straße zur Entwicklung der Region aussprechen. Der Tourismus konfrontiert die Tuschen vor die Frage, was für sie in ihren Beziehungen zu Tuschetien wichtig ist, welche Werte damit verbunden sind und welche nicht, und vor allem auch, wie sehr sie an dem hängen, was sie als Gastfreundschaft betrachten.
Fotografie: Stefan Applis, Gwendolin Lemaitre, Florian Mühlfried, Mitteldeutscher Verlag Halle (2024, 2025)
Literatur
- Applis, S. (2019): On the influence of mountain and heritage tourism in Georgia: the exemplary case of Ushguli. Erdkunde 73 (4), S. 259–275
- Applis, S. (2020): Perspectives – The threats to Georgia’s world heritage sites. Should locals be expected to forgo modernity to satisfy the demands of UNESCO and the global tourism industry? Eurasianet (https://eurasianet.org/perspectives-the-threats-to-georgias-world-heritage-sites)
- Lemaitre, G. (2022). Case Study of a Tush Transhumance. Contemporary Challenges of a Journey across Georgia: Sociability, Contingency and Relationship to the Land. In: Nomadic People 26 (1): 41–82.
- Mühlfried, F. (2014): Being a State and States of Being in Highland Georgia. New York, Oxford
- Štulcaitė, E. (2019): Reconstruction of a village in Tusheti. On the role and goals of the state in the development strategy for the highlands of Georgia. Balticworlds. Special section XII (4): Remembering and reimagining rural communities.

