Der Beitrag Merzbachers zur Kaukasusforschung

Gottfried Merzbacher (* 9. Dezember 1843 in Baiersdorf bei Erlangen; † 14. April 1926 in München) war ein deutscher Geograph, Alpinist und Forschungsreisender jüdischer Herkunft, der, nachdem er das Kürschnerhandwerk gelernt hatte, in Paris, London und St. Petersburg zum Kaufmann ausgebildet worden war. 1888 verkaufte er sein Geschäft mit dem Hauptsitz in München und widmete sein Leben fortan dem Alpinismus. Merzbacher war maßgeblich an der Erschließung der Alpen, des Kaukasus und asiatischer Gebirge wie dem Tian Shan beteiligt. Im Kaukasus sammelte Merzbacher auf zahlreiche Touren physisch-geographische Daten. Und er lieferte, auch heute noch interessante, ethnographische Beschreibungen zu Architektur, Alltagspraktiken und religiösen Praktiken verschiedenen ethnischer Gruppen, sowie Analysen der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in mehreren Regionen des Nördlichen und Südlichen Kaukasus. Merzbacher legimierte sein in zwei Bänden erschienenes Werk im Vorwort damit, dass bisher keine vergleichbare Abhandlung vorgelegt worden sei und dass er etliche Irrtümer, die in der deutschsprachigen Literatur über den Kaukasus kursieren, richtigstellen möchte.

Während die herrliche kaukasische Alpenwelt durch die Reisen englischer Alpinisten und Gebirgsforscher (…) der englischen Leserschaft schon seit langem nicht mehr fremd ist, weist die deutsche geographische und alpine Literatur bis zum heutigen Tage nicht ein einziges Werk von Bedeutung über dieses wundervolle Gebirge auf. Die wenigen Reisenden (…), welche bisher in die kaukasischen Alpen eingedrungen sind, haben dort nur flüchtige Umschau gehalten (…). Als Tatsache darf es gelten, dass bisher immer ein Autor die Fehler und Irrtümer des anderen nachegschrieben hat, und dass diese, seit sie zu Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatten, bis auf unsere Tage immer wieder gläubig hingenommen und nachgedruckt worden sind.

Gottfried Merzbacher (1904), Vf.

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, liefert Merzbacher zu jedem Kapitel auch ein ausführliches Verzeichnis der englisch-, russisch- und französischsprachigen, sowie deutschen Literatur zu dem jeweiligen Themenfeld oder der Region. Für seine Ausführungen zu Swanetien nimmt er für sich in Anspruch, Neuland zu betreten.

Über Swanetien und die Swaneten sind in verschiedenen Sprachen schon Abhandlungen erschienen, aber meines Wissens wenigstens in deutscher Sparche nichts Eingehendes und Zusammenfassendes.

Gottfried Merzbacher (1904), 349f.

In Swanetien hat sich Merzbacher wegen der für ihn interessanten Gipfel und der besonderen kulturellen Geschlossenheit und Abgeschiedenheit der Region länger aufgehalten und so eine Reihe von differenzierten Beschreibungen geliefert, in die im Folgenden Einblick gegeben werden soll.

Swanetien und die Swaneten

Gottfried Merzbacher folgt in seiner Darstellung dem klassischen völkerkundlichen Modell seiner Zeit und dem Ansatz der regionalgeographischen Länderkunde. D. h., er versucht, das Tun der Menschen weitestgehend aus dem geographischen Raum heraus zu erklären unter Einbezug der für den Raum besonderen historischen Begebenheiten. Entsprechend neigt er dazu den Menschen jeder Ethnie, denen er begegnet, einen Volkscharakter zuzuschreiben, der eng mit dem physischen Raum verbunden ist und bei dessen Bestimmung rassistische Perspektiven wesentlich sind. Allerdings ist Merzbacher auf Grund seiner Erfahrungen in den europäischen Alpen auch gut vertraut mit dem sozialen und wirtschaftlichen Leben in Hochgebirgsregionen, mit Ackerbau auf Grenzertragsböden und Viehwirtschaft, so z. B. dass seine Beschreibungen der landwirtschaftlichen Praktiken wertvoll sind.

Und er hat einen guten Blick für die patriarchalen sozialen Systeme und deren Stützung durch religiöse Vorstellungen, die das Leben in den europäischen Hochgebirgslagen ebenso wie in der Kaukasusregion strukturieren.

Hintergrund: Organisation der Dörfer als Schwurgemeinschaften oder Eidgenossenschaften: In den Dorfgemeinschaften, die sich als zusammengehörig erachteten, herrschte ein gemeinsam gepflegtes Rechtssystem, das durch ausgewählte Vertreter der Dörfer vollzogen wurde.  
Die Bestätigung von Rechtsurteilen der Ältestenräte und Mediatoren, die die Dorfgemeinschaften verwalteten, erfolgte über Ikonenschwüre. Man schrieb die Beschlüsse an Kirchenwände oder ritzte sie in Kreuze ein, so dass sie für alle sichtbar dokumentiert waren und schwor bei dem auf der Ikone abgebildeten Heiligen, dass man sich an die Beschlüsse halten würde. Im Svaneti Museum of History and Ethnography sind Holzstäbe erhalten, die auf allen Seiten niedergeschriebene Rechtsdokumente enthalten. Dies führte dazu, dass sich traditionelle Rechtspraktiken im Gebiet des oberen Enguri-Tals verfestigten.  So verwalteten sich die Talschaften als Schwurgemeinschaften selbst in einem, so Brigitta Schrade, „militärisch-demokratischen System“, das seitens der Kirche stabilisiert wurde.  Mit dem Bischofssitz in Seti, dem zentralen Dorf der Dorfgemeinschaft Mestia, war das kirchliche Machtzentrum, auf das sich die Dörfer der freien Schwurgemeinschaften hin orientierten, fest in Swanetien installiert.  Um sich die militärische Kraft der Swanen zu erhalten, kam es wohl, so Brigitta Schrade, zeitweise zu einer Art Wettbewerb unter den Herrschern aus der georgischen Ebene, die sich in Glocken-, Ikonen- und Geldspenden ausdrückte. Zudem differenzierte sich die Gesellschaft aus in dem Raum, der später durch die zaristische Verwaltung als Freies Swanetien bezeichneten wurde. Wohlhabendere Familienlinien traten mehr und mehr als Stifter oder Spender auf, was zu einer Stabilisierung der durch die Kirche abgesicherten Rechtspraktiken und damit zu einer Stabilisierung des Gemeinwesens beitrug. Gegen die starken Schwurgemeinschaften vorzugehen, war wohl immer auch riskant, da diese über starke Kontingente an kriegserprobten Männern verfügten und auch zu räuberischen Alleingängen neigten. 
Literaturempfehlung: Brigitta Schrade (2021): Das christliche Swanetien. Beiträge zur Geschichte und Kunst der byzantinischen „Peripherie“ zwischen Jerusalem und Konstantinopel. Reichert.

Gottfried Merzbacher profitierte, ebenso wie nach ihm Wilhelm Ricker-Rickmers von der zaristischen Unterwerfung Georgiens und Swanetiens, die durch die Eingliederung der früheren Lehnsherren und regionalen Adelsfamilien der Dadischkiliani und der Dadiani in das russische System des Militäradels zur militärischen Kontrolle der Region geführt hat. Daneben interessiert ihn vor allem das sogenannte Freie Swanetien. Hier zieht er Parallelen zu den Talschaften des Berner Oberlandes in der Schweiz und hält fest, dass „die Bewohner dieses Gebietes Jahrhunderte lang keinerlei Oberherrlichkeit anerkannten und sich in selbständige, voneinander völlig unabhängig Dorfgemeinschaften gliederten.“ (Merzbacher 1904, 353).

Hintergrund: Der Begriff des „Freien Swanetiens“ wurde von der zaristischen Verwaltung für die offiziell seit 1853 angeschlossene Region verwendet. Bereits 1847 hatten sich etliche Dörfer dem Zaren unterworfen. Andere weigerten sich wohl auch deswegen, sich dem russischen Rechtssystem zu unterstellen, weil mit der russischen Politik, die Russland auch als zivilisatorisches Projekt verstand, eine Christianisierung im Sinne der russischen Orthodoxie verbunden war. Dies führte vielerorts zu Widerstand, weil das swanische Christentum stark mit dem traditionellen Gewohnheitsrecht verbunden war. Im Falle Swanetiens ist für das heute nicht mehr bewohnte Dorf Khalde, das zur Talschaft von Kala gehört, ein Massaker durch zaristische Truppen im Jahr 1876 verzeichnet, bei dem rund 60 Personen getötet worden sein sollen – weitere 40 seien als Zwangsarbeiter deportiert worden, von denen nur einer nach Swanetien zurückkehrte. Die Dorfbewohner von Khalde hatten sich geweigert Steuerforderungen des russischen Imperiums zu erfüllen, da sie sich als Swanen des Freien Swanetiens nicht dem zaristischen Recht unterordnen hatten wollen. Um ein Exempel zu statuieren, wurden sämtliche Familientürme eingerissen und das Dorf dem Erdboden gleich gemacht. Die Wiederbesiedelung Khaldes erfolgte erst 1924 in der Sowjetzeit mit der Gründung einer Kolchose in Kala.

Aus heutiger Perspektive mehr als unangemessen wirken allerdings Merzbachers Abhandlungen über die Herkunft der Bewohner Swanetiens, die nur als rassistisch bezeichnet werden können. Allerdings stammt der Großteil des darin vorgetragenen Gedankenguts nicht von Merzbacher selbst. Er analysiert vielmehr die Deutungen aus der französischen, englischen und russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die das „schroff abweisende, wilde, barbarische und feindselige Wesen der Swanen“ (Merzbacher 1904, 354) darauf zurückführen, dass die Swanen eher die Nachkommen von Verbrechern verschiedenster ethnischer Herkunft seien, die in die Sicherheit der Berge flüchteten. Ihre Verwandschaft mit Imeretiern und Grusiern wird darin zurückgewiesen, weil sie einen „derberen Knochenbau, härtere, gröbere Züge, breitere Nasen, schmälere Lippen, schmalere Augenbrauenbögen“ (ebd.) hätten.

Diese Spekulationen verwirft Merzbacher, indem er sich auf die Überlieferungen von griechen und römischen Autoren als Angehörige „geistig höherstehender Völker“ (Merzbacher 1904, 354) bezieht. Aus der Analyse von Strabo, Plinius und Ptolemäus zieht er den Schluss, dass die Swanen die Nachkommen verschiedener früherer Völker der Kolchis seien, die nach dem Tode Alexanders des Großen und den damit verbunden Reichsteilungen in die Berge abgedrängt worden seien und urspünglich wegen des griechischen Einflusses eine „höhere Kultur“ (ebd.) gehabt hätten.

Erst später, in der Isolation der Berge, sanken sie in Barbarei zurück und wurden das rohe Räubervolk, als welches die späteren römischen Autoren sie uns beschreiben. Die Schilderung Procops von den Tsanes, einem Volke, unter welchem nur die Swanen gemeint sein können, stimmt nahezu vollständig mit allein überein, was später von ihnen bekannt wird: auch er hebt hervor, dass sie ein räuberisches Volk seien, welches stets plündernd in die umliegenden Länder einfalle. Die römischen Kaiser suchten sie durch jährliche Tributzahlung von ihren Beutezügen abzuhalten, was jedoch nicht immer gelang, so dass Augustus schließlich mit Waffengewalt gegen das unbändige Volk vorzugehen gezwungen war. (…) Wir können vor allem annehmen, dass die Swanen den uralten karthwelischen Typus am reinsten zur Schau tragen, und zwar weit mehr als die östlichen Iberer, welche in kaum unterbrochener Folge der Berührung und dem Einflüsse anderer Völker ausgesetzt, eine stete Beute fremder Eroberer wurden, weshalb sie trotz ihrer unleugbar kraftvollen Eigenart Gesetzen und Sitten der fremden Völker unterlagen, unter deren politischer Abhängigkeit sie gerade sich befanden und hierdurch, wie durch Vermischung mit den neuen Eindringlingen, Veränderungen ihres ursprünglichen Wesens erfuhren.

Merzbacher 1904, 355

In diesen und anderen Passagen erscheinen Merzbachers Ausführungen bisweilen schwer erträglich, da es ihm offensichtlich darum geht, in einer Art ‚positivem Rassismus‘ die Swanen als eigenständiges, geschlossenes Volk zu begründen und den Vorwurf außer Kraft zu setzen, dass sie Nachkommen von ‚Mischlingen‘ seien. Nicht zuletzt dient ihm hier der in Swanetien etablierte christliche Glaube als Referenz, den er an den religiösen Praktiken und den vielen Kirchenbauten, die für Swanetien typisch sind, festmacht.

Obwohl die Sage bei den Swaneten die Entstehung der Kirchenbauten, wie überhaupt alles Bedeutende an Menschenwerk im Lande, der Zeit der Königin Tamara (1184—1212) zuschreibt, obwohl nach Bakradses Untersuchungen ältere Handschriften, als bis 1033 zurückreichend, in den Kirchen nicht gefunden wurden, so geht doch aus ihrer Bauart und Ausschmückung hervor, dass sie einer früheren Kulturperiode angehören und mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der allerersten Zeit der Einführung des Christentums im Kaukasus stammen.

Merzbacher 1904, 362

Ausführliche Schilderungen widmet Merzbacher der Gestalt des Gebirges, den tief eingeschnittenen Tälern und damit der Unzugänglichkeit der Region, auf die er zurückführt, dass die Swanen so lange in einem weithin abgeschlossen kulturellen Raum gelebt haben.

Der Ingur bildet, wie so manche andere kaukasische Flüsse, in seinem Oberlauf ein breiteres Tal als tiefer unten, (…) rings von hohen Gebirgen umschlossen. Im Westen unmittelbar nach der Einmündung des Nakra-Flusses, also gerade dort, wo der swanetische Gau endet, verengt sich das Tal plötzlich und der Fluss durchbricht hier zwischen gigantischen Mauern ungeheure Massen von Eruptivgesteinen, zwängt sich zwischen die Ausläufern des centralen Granitkammes am Kirar und dem Porphyrstock des Rokar hindurch und gräbt sich weiterhin tief in die Kalke und Sandsteine des Jura, endlich in die Schichten der Kreide ein. Durch diese ca. 65 km lange Engschlucht, begrenzt von himmelan strebenden Steilwänden, entweichen die gewaltigen Wassermengen, welche der Ingur im swanetischen Kessel aus dem umrandenden, vergletscherten Gebirgsring empfangen hat. (…) Durch das Flusstal besteht demnach keine regelmäßige Verbindung der Außenwelt mit dem oberen swanetischen Gau. Gegen Norden und Osten schließt ihn der Eiskamm des hohen Kaukasus ein, über welchen nur vergletscherte Pässe führen; im Süden trennt ihn der hohe, teilweise vergletscherte Wall der Laila von dem Zcheneszchali-Tale und Imeretien. Über den eisfreien östlichen Teil dieser Kette allein, — über hohe Pässe, von welchen der Latpari-Pass (2830 m) der begangenste ist — kann also das obere Swanetien erreicht werden; im Winter aber sind auch diese nicht zu überschreiten und das Land bleibt monatelang völlig unzugänglich. So bot denn die Abgeschlossenheit des Gebietes die Unterlage zu einer separatistischen Entwicklung, und man braucht nicht zur anbewiesenen Annahme der Einwanderung von Flüchtlingen anderer Stammeszugehörigkeit zu greifen, um die Eigenart dieses Volkes zu erklären. Solche Abgeschlossenheit macht uns begreiflich, wie der entlegene Gau in den letzten Jahrhunderten, während sturmbewegte Zeiten als Folge unausgesetzter, innerer Kämpfe und äusserer Einfalle (Türken. Perser) über Mingrelien und Imeretien dahinzogen, eine terra incognita wurde und aus dem Gedächtnis der Mitwelt verschwand, sodass er erst um die Mitte dieses Jahrhunderts gewissermaßen neu entdeckt werden musste.

Merzbacher 1904, 370f.

Irrungen und Wirrungen – Deutungen des ‚Swanischen Charakters‘

Aus heutiger Sicht interessant sind auch die Textstellen, in denen Merzbacher davon spricht, wie schwer zugänglich ihm die Menschen erscheinen. Es kann ihm natürlich kaum gelingen die koloniale Perspektive abzulegen – selbstverständlich ist er der russischen Expansionspolitik dankbar, die ihm das Bereisen der Region ermöglicht und selbstverständlich kann er nicht verbergen, dass er sich selbst einem ‚Volk‘ zurechnet, das „stetig an Kraft (gewinnt und dem er einen) zunehmende(n) expansive(n) Zug (zurechnet), der alljährlich eine immer noch wachsende Zahl Reiselustiger hinaus in ferne Gebiete führt, deren Betreten vor nicht gar langer Zeit noch gewissermaßen als ein sensationelles Ereignis gegolten hatte“ (Mersbacher 1904, V). Und Mersbacher hat ja selbst auch viel geleistet, so viel hinter sich gelassen, um so weit zu gelangen. Das ‚Fremde‘ bleibt ihm trotz allem ein Rätsel, seine Fantasien über die Charakterzüge der Swanen sind stellenweise belustigend, überwiegend aber beschämend – nie kann sich Merzbacher vor Augen führen, dass Russland erst seit wenigen Jahren eine Besatzungsmacht in der Region ist, dass Massaker an der Bevölkerung verübt wurden, um die zaristische Ordnung aufrecht zu erhalten. Er müsste doch eigentlich verstehen können, denkt man als heutiger Leser, dass es kein Wunder ist, dass ihm die Swanen, die ihm begegnen, feindselig und misstrauisch vorkommen. Im Folgenden sollen zur Veranschaulichung noch einige Passagen angeführt werden, die nicht weiter kommentiert werden.

Von Charakter sind die Swaneten, wie schon aus dem Vorhergehenden zu entnehmen ist, nicht gerade sympathisch, wiewohl nicht in Abrede gestellt werden soll, dass sie Tapferkeit und Unerschrockenheit zeigen, mutig in Verteidigung ihrer Interessen, sowie bei Verfolgung ihrer Rachegefühle sind; aber sie besitzen doch keineswegs die ritterlichen Eigenschaften und das liebenswürdige Naturell, den freien, offenen Charakter und besonders auch nicht die Gastfreundlichkeit ihrer karthwelischen Brüder, der Grusier, Imereter und Gurier. Hinterlist und Verstocktheit bilden den Grundzug im Wesen des Swaneten, Habgier die Triebfeder seiner Hand-lungen. Misstrauen gegen Fremde und darum unfreundliches, ungastliches Benehmen eine seiner hervorragendsten Eigenschaften. Nicht der freie Mut und der ritterlich-kriegerische Sinn des Grusiners sind ihm eigen; ihn beherrscht nur Raubgier und Kauflust als Folge seines maßlos jähzornigen Charakters. Den Wert des Geldes kennt der Swanete nicht, da solches in den letzten Jahrhunderten bis vor kurzem im Lande überhaupt nicht im Umlauf war. Und darum ist es noch heute öfters ungemein schwer, über Kaufpreis und Lohn mit ihm ein Übereinkommen zu treffen, umso mehr, als er sich Fremden gegenüber an sein Wort nicht gebunden halt. Es ist mir vorgekommen, dass ich einem Manne in Betscho mehr für einen Gegenstand bot, als er verlangte, und er weigerte sich dennoch hartnäckig, ihn abzulassen, da er nicht so weit zu zählen vermochte, um seinen Vorteil zu begreifen. Es war das Misstraunen allein, welches ihn zu seiner Weigerung veranlasste. Die Art der Swaneten, mit den Fingern, Händen oder gar mit Steinen zu rechnen, ist höchst sonderbar und gemahnt an völlig wilde Völker. Im ganzen swanetischen Gau gibt es nicht einen einzigen Duchan oder Kramladen, in welchem man nur die allereinfachsten Bedarfsartikel erstehen könnte: nur herumziehende Krämer bringen einige Ware in das Land. Von der Streitsucht der Swaneten und der damit verbundenen Lebhaftigkeit war schon im vorigen Kapitel die Rede, ebenso wie von ihrer Geschwätzigkeit, die weder durch schwere Arbeit noch bei anstrengendem Marsch für einen Augenblick eine Unterbrechung erleidet; ihre Zungenfertigkeit ist unglaublich und die berüchtigtsten unserer alten Weiber können dagegen als Trappisten gelten. Schon im gewöhnlichen Zwiegespräch pflegt selten einer allein zureden: Wo aber mehrere eine Unterhaltung fuhren, da schreien sie einander an, als oh sie sich für taub hielten und alle sprechen zu gleicher Zeit, wobei die Worte hastig und rasch ausgestoßen werden. Je lebhafter das Gespräch, desto höher wird die Tonart; bei dem Überfluss an Kehl- und Hauchlauten kann man sich die melodische Wirkung ausmalen. Eine für den Fremden sehr belästigende Eigenschaft ist ihre haltlose Neugierde, erklärbar durch die Seltenheit des Erscheinens von Fremden im Lande: aber auch Indolenz, Unbotmäßigkeit und manchmal Unehrlichkeit – machen sich unangenehm fühlbar. Darum ist es auch bis jetzt nicht gelungen, aus den Swaneten brauchbare Soldaten zu machen, und wiewohl die meisten Bergvölker jetzt zur Miliz ausgehoben werden und ganz tüchtige Krieger abgeben, selbst die bis vor kurzem verzweifelt um ihre Unabhängigkeit kämpfendes Lesghier, so ist dies, nach mir gewordener Mitteilung von Seiten befreundeter russischer Offiziere, bis jetzt bei den Swaneten nicht geglückt. Allerdings zieht man jährlich eine geringe Zahl zum Militärdienst heran, aber es ist ihnen keine Disciplin beizubringen und diese Söhne der Freiheit welken in den Kasernen dahin, gleich aus ihrem natürlichen Nährboden herausgenommenen Pflanzen. Im Essen ist der Swanete mäßig und kann sogar bei großer Anstrengung auf langen Märschen hungern oder doch mit einem Minimum von Nahrung auskommen. Wo ihm aber reichliche Gelegenheit geladen wird, da vermag er wieder unglaubliche Mengen in der unergründlichen Tiefe seines Magens verschwinden zu lassen; ich glaube, dass einer wohl ein halbes Schaf auf einen Sitz, zu verzehren im stände wäre. Selten jedoch bietet sich ihm die Möglichkeit des Fleischgenusses; die gewöhnliche Nahrung sind ungesäuerte, kleine Kuchen Gerstenbrotos, in primitiver Weise auf heißen Steinen gebacken, etwas Topfenkäse und Sauermilch und gewisse, wild wachsende Gemüsearten, welche man roh verzehrt. Eine besondere Delikatesse ist das sogenannte Chadscbapuri, die gleiche Art Gerstenbrotes, wie die eben beschriebene, jedoch mit Einlage einer Schiebte Topfenkäses; ich fand dieses Gebäck, besonders in frischem Zustande, sehr wohlschmeckend. Ungleich ausschweifender ist der Swanete im Trinken, obwohl der das Nationalgetranke bildende, fuselreiche Koruschuaps (Kaka) für europäische Gaumen einen ganz abscheulichen Geschmack besitzt. Der angenehmste Zug im Wesen des Swaneten ist seine Neigung zur Heiterkeit, wie man dies übrigens bei den meisten Naturvölkern wahrnehmen kann. Er liebt Poesie, Tanz und Gesang. Die erstere ist nicht reizlos und durchweht von altheidnischen und historischen Erinnerungen; das Andenken der Königin Tamara wird darin besonders verherrlicht. Der Gesang ist von einer Art. die mit den melodischen Tonreihen, welche wir darunter verstehen, sehr wenig gemein hat. Es sind langgezogene, ein-förmige, klagend oder wild klingende Weisen, mit rauher Stimme möglichst laut herausgestoßen. Die Lebhaftigkeit des Vortrages ersetzt den Mangel an Wohlklang, und je höher und klüftiger der Sänger die Fistelstimme verwendet, wobei er Hals und Augen konvulsivisch verrenkt, desto sicherer ist er des Beifalls seiner Hörer. Bei gemeinschaftlichen Gesängen singt einer vor, meist ohne jeglichen Tonfall, und am Ende einer Strophe stößt er einige Worte laut aufschreiend heraus, welche, alle Anwesenden im Chore wiederholt hinausbrüllen. Die Strophen sind meist kurz und öfters wird der Gesang durch Zupfen eines unscheinbaren, siehensaitigen Instrumentes (Tschangi) begleitet, ähnlich einer kleinen Harfe. Auf Märschen kann dem Reisenden der überaus dauerhafte Gesang der swanetischen Träger oft recht lästig werden und sie würden eine Mahnung, ihn einzustellen, nicht nur als einen unbegreiflichen Defekt im ästhetischen Gefühl des Reisenden ansehen, sondern auch als einen Eingriff in ihr freies Menschentum.

Merzbacher 1904, 367ff.

Text: Stefan Applis (2021)

Abbildungen: E. T. Compton, E. Platz & M. Z. Diemer aus Gottfried Merzbacher (1904)

Literatur

Gottfried Merzbacher (1904). Aus den Hochgebirgen des Kaukasus. Dunker und Humblot. Leipzig. Online verfügbar unter http://digital.bib-bvb.de/view/bvbmets/viewer.0.6.4.jsp?folder_id=0&dvs=1615716168307~910&pid=2221449&locale=de&usePid1=true&usePid2=true