Das 15 km nordwestlich von Kutaissi, der zweitgrößten Stadt Georgiens gelegene Tskaltubo war in der Sowjetzeit einer der größten Kurorte der Sowjetunion. Dieser umfasste in den 1970er Jahren „rund 6000 Sanatorien, Prophylaktorien und Pensionate, in […] [welchen] jährlich an die 13 Millionen Menschen versorgt wurden; […] rund 90 Prozent zu privilegierten Bedingungen auf Staatskosten“ (Schlögel 2017, 305 unter Bezug auf Kozlov 1979). Wegen seiner leicht radioaktiven Thermalquellen wurde es bereits seit dem 19. Jahrhundert als Heilbad betrieben und im Zuge der Kurortpolitik zur Aufrechterhaltung der sozialistischen Arbeitskraft mit historisierenden Gebäudekomplexen im Stil des sowjetischen Neo-Klassizismus der Stalinzeit zwischen 1939 und 1955 auf- und in einer zweiten Hochphase der 1970er Jahre architektonisch im Stil der klassischen sowjetischen Moderne ausgebaut.

Der Sowjetische Industriestaat entwickelte ebenso wie sein kapitalistisches westliches Gegenüber massentouristische Formen, bei denen die Erholung standardisiert war. D.h. die Urlauber verbrachten Jahr für Jahr auf immer dieselbe Weise an immer denselben Orten ihre Auszeit von der Industriearbeit. Dies wird sichtbar z. B. im baulich standardisierten Angebot von Unterkünften oder Wegenetzen für die Nutzung standardisierter Aktivitäten, die wiederum zeitlich immer gleich rhythmisiert und auf austauschbare Gruppen abgestimmt waren und bis heute sind – die Mittelmeerküsten Italiens, Spaniens und der Türkei sind voll von solchen kaum unterscheidbaren, immer gleich aussehenden Urlaubsorten.

Das sowjetische System der Gesundheitsversorgung und des Kurwesens war auf streng wissenschaftlichen Prinzipien aufgebaut und man gründete hierfür eigene Institute der Bäder- und Erholungskunde wie dem in Tskaltubo. Denn die Kurorte dienten zuvorderst dazu, „die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Werktätigen wiederherzustellen, sie zu Pflege von Gesundheit und Hygiene zu erziehen, eine umfangreiche und differenzierte kulturelle und erzieherische Arbeit zu leisten“ (Kozlov 1979, 15; zit. nach Schlögel 2017, 306). Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand diesbezüglich erheblicher Bedarf, da es in Folge der Kriegsjahre nicht nur eine hohe Zahl an körperlich Versehrten gab. Die Menschen waren auch wegen der über Jahrzehnte hin mangelhaften Ernährungslage ausgezehrt und sie konnten ihre Arbeitskraft nicht voll einbringen, wenn man sich nicht darum bemühte, ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten.

In ideologischer Hinsicht ging es um die Herstellung des sowjetischen Menschen als Typus (vgl. Ausführungen zum homo sovieticus u. a. im Werk von Swetlana Alexijewitsch (2013). Zudem waren, wie in Tskaltubo, die Gebäudekomplexe unterteilt nach ihren Nutzern als u. a. „Sanatorium der Bergarbeiter“ und „Sanatorium der Geologen“.

„Erholung war nicht einfach Freizeit, sondern ‚bewusst und kulturvoll‘ gestaltet, der Entwicklung des ‚allseitig gebildeten Menschen‘ dienende Tätigkeit, die Fortbildung, Theater, Landeskunde, Gymnastik mit einschloss. […] Der Tagesablauf war auf die Abfertigung und das Management von Kollektiven […], nicht auf die Bedingung individueller Gäste [ausgerichtet]“ (Schlögel 2017, 314).

Das Sowjetsystem konnte bei der Einrichtung von Bade- und Kurorten wie Tskaltubo einerseits auf ein an der Demonstration von Pracht hin ausgerichtetes zaristisches Erbe zurückgreifen, das bis zum heutigen Tag das Zentrum der meisten ehemaligen sowjetischen Kurorte bildet. In Georgien begegnet man ihm vor allem in Borjomi, dem ehemals zaristischen Kurort des Kleinen Kaukasus (vgl. ausführlich Schlögel 2017, 306-316 zur zunächst militärische und dann kulturelle Inbesitznahme von Schwarzmeerküste und Kaukasus durch Aristokratie, Unternehmer und bürgerlichen Mittelstand als ‚russischen Süden‘). An dieser Pracht „nahm das sowjetische Nachfolgeregime Maß“ (Schlögel 2017, 308). Einerseits ging es darum, diese Pracht den Massen zugänglich zu machen und den Arbeitern den Lebensstandard der Ausbeuterklassen vorzuführen. Andererseits sollte in der neuen sowjetischen Bäderarchitektur, die Ideologie der Ausbeuterklasse überwunden werden (vgl. Schlögel 2017, 312-316).

In Tskaltubo fehlt heute das bourgeoise Erbe der zaristischen Kurorte oder das der kurzen Phase von Georgiens Erster Republik (1918-1921). Doch treten an dessen Stelle die pompösen Gebäude des sowjetischen Neo-Klassizismus, der das Bourgeoise in seiner Orientierung am überzeitlich Klassischen imitierte. Dieser Baustil ist dominierend in Tskaltubo. Die weiteren Kurortgebäude repräsentieren in ihren Architekturen die Ästhetik des Konstruktivismus, der sogenannten „klassischen sowjetischen Moderne“, die für andere berühmte Kurorte, wie Mazesta in Abchasien, Programm waren.

Text: © Stefan Applis (2019)

Bilder: Die historischen Fotografien wurden durch das Tourismusbüro der Gemeinde Tskaltubo freigegeben. Ich bedanke mich bei dem stellvertretenden Direktor Irakli Maisashvili für das Einscannen und Übermitteln der Bilder. Das Nachverfolgen von eventuellen individuellen Bildrechten war dem Tourismusbüro nicht möglich.

Literatur:

Alexijewitsch, S. (2013): Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Berlin.

Kozlov, I. I. (Ed.) (1979). Zdravnicy profsojusov SSSR. Kurorty, sanatorii, pansionaty i doma otdycha profsojusov. (Izdanije pjatoepererabotanoe i dopolnennoe). Moskva.

Schlögel, K. (2017): Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. C.H. Beck: München.

Naumoviu, O., Otorovich, G., Otorovna, M. (1990): Kurort Caltubo i ego lchebnye istochniki. [ Курорт Цалтубо и его лчебные источники. Научно-медицинское общество курортов и физиотерапевтов грузинскои CCP.] Nauchno-medicinskoe obshhestvo kurortov i fizioterapevtov Gruzinskoi SSR. [Научно-медицинское общество курортов и физиотерапевтов грузинскои CCP.]